Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Reportage: Land ohne Läden: In vielen Dörfern gibt es keine Geschäfte mehr

Reportage

Land ohne Läden: In vielen Dörfern gibt es keine Geschäfte mehr

    • |
    Statt in einer Bäckerei kaufen die Menschen in Nassenbeuren ihr Brot an einem mobilen Bäckerwagen am Straßenrand.
    Statt in einer Bäckerei kaufen die Menschen in Nassenbeuren ihr Brot an einem mobilen Bäckerwagen am Straßenrand. Foto: Ulrich Wagner

    Der Blick durch die Fenster des kleinen, unscheinbaren Häuschens ist ein Blick in die Vergangenheit. Durch die matten Scheiben, in denen sich der blaue Frühlingshimmel spiegelt, sieht man in einen kahlen Raum. Eine schmale Theke und ein paar hellgelbe Wandfliesen – mehr ist nicht geblieben. Früher war hier eine Metzgerei, türmten sich Würste und Koteletts in den Auslagen, die nun einsam vor sich hinglänzen. „Bei uns in Nassenbeuren hat alles zugemacht“, sagt Antonie Bitzer.

    Die Rentnerin steht vor der ehemaligen Metzgerei, von deren Holzfenstern die weiße Farbe abblättert. Ihre Wangen sind von der kühlen Morgenluft sanft gerötet. Auf ihren kurzen Haaren tanzen die Sonnenstrahlen. Antonie Bitzer geht weiter, einen kleinen Hügel hinauf. Eine Katze döst faul in der Sonne, die Kirchturmglocken schlagen neun, ein Bauer mit Zipfelmütze fährt mit seinem Traktor vorbei. Landidylle.

    Vor einem zweigeschossigen Haus gegenüber der Kirche bleibt Antonie Bitzer stehen. Die Rollläden sind heruntergelassen, die Schaufenster leer. „Da war mal ein Lebensmittelladen drin. Aber den gibt es auch nicht mehr“, sagt sie und schüttelt den Kopf.

    In vielen Dörfern auf dem Land sterben die Läden aus

    Seit 70 Jahren lebt Antonie Bitzer in dem Dorf im Unterallgäu, nur ein paar Kilometer von Mindelheim entfernt. Nicht nur der Metzger und der Lebensmittelmarkt sind verschwunden – auch der Bäcker und die Bank haben dichtgemacht. Nicht mal mehr einen Geldautomaten gibt es in dem 820-Einwohner-Ort. Vor allem Senioren leiden unter der Situation. Denn: Wer einkaufen oder einfach nur seine Kontoauszüge abholen möchte, muss mobil sein.

    Nur ein Blumenladen ist noch im Ort.
    Nur ein Blumenladen ist noch im Ort. Foto: Ulrich Wagner

    Nassenbeuren ist kein Einzelfall. In vielen Dörfern auf dem Land sterben die Läden. Einer nach dem anderen. Wohin führt das? Bluten kleine Dörfer nach und nach aus? Verschwinden in Zukunft noch mehr Geschäfte? Geht es ohne Auto bald gar nicht mehr? Ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt: Genau so könnte es kommen. 11.500 Lebensmittelgeschäfte gab es nach Angaben des bayerischen Handelsverbandes vor zehn Jahren im Freistaat. Heute sind es nur noch 9000. „Und die Zahl schmilzt weiter ab“, sagt Verbandssprecher Bernd Ohlmann. Bei den Bäcker- und Metzgerbetrieben sieht es nicht besser aus. Deren Zahl hat sich laut einer Statistik des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks in den vergangenen 20 Jahren halbiert.

    Unsere Konsumwelt ist über die Jahre eine andere geworden. Mittlerweile können Lebensmittel mit einem Mausklick im Internet bestellt werden, Supermärkte liefern die gewünschten Waren nach Hause, andere Anbieter schicken fertig gepackte Kochboxen, damit man für keine einzige Zutat mehr das Haus verlassen muss. Sind diese Angebote eine Reaktion auf das Ladensterben? Oder vielmehr deren Ursache? Weder noch, meint Ohlmann vom bayerischen Handelsverband. „Das Ladensterben fing ja nicht erst mit dem Online-Handel an. Aber diese Angebote werden den stationären Handel weiter unter Druck setzen.“

    Mobile Bäckerwagen sind die einzige Chance, morgens Brot zu kaufen

    Angesichts der immer dünner werdenden Ladendichte sind nicht nur Konzerne, sondern auch kleinere Unternehmer erfinderisch geworden. Und so stehen dem Ladensterben im ganzen Land viele mobile Konzepte gegenüber. Fahrende Händler gab es zwar schon immer, gerade jetzt aber gewinnen sie mehr und mehr an Bedeutung: Kleinbusse, in denen man nicht nur Butter und Käse, sondern auch Gesichtscremes, Waschmittel oder Zahnpasta kaufen kann. Transporter, die Salat und Gemüse direkt zu den Menschen nach Hause bringen. Brauereien, die die schweren Getränkekisten bis an die Haustür liefern. Oder mobile Bäckerwagen, die landauf landab durch einsame Dörfchen tingeln, aus denen die letzten Backstuben verschwunden sind.

    Für die Nassenbeurer ist der Semmelwagen, der dreimal pro Woche in den Ort kommt, die einzige Chance, morgens Brot oder Brezen zu kaufen – wenn sie dafür nicht extra nach Mindelheim fahren wollen. Zwei Bäckereien kommen regelmäßig ins Dorf. An diesem Vormittag steht ein Wagen der Bäckerei Holzheu aus Dirlewang an der Hauptstraße, direkt neben dem Blumenladen. Der ist dem Ort noch geblieben.

    Der mobile Bäcker kommt zweimal die Woche.
    Der mobile Bäcker kommt zweimal die Woche. Foto: Ulrich Wagner

    Im Bäckerwagen steht Christine Schmalholz. Sie trägt einen roten Pullover, darüber eine graue ärmellose Jacke. Glänzende Quarktaschen, mehlbestäubte Brotlaibe, geschnittenes Knödelbrot, puderzuckrige Krapfen, Nussecken, Brezen, Semmeln und Sahnetorten sind in den Auslagen zu sehen. „Der Andrang ist immer groß. Die Menschen warten schon, wenn ich komme“, sagt Schmalholz und reicht einer Kundin zwei Römersemmeln und eine Breze. „Wir haben gesehen, dass es immer weniger Bäcker gibt. Also haben wir das mit dem mobilen Bäckerwagen probiert. Und es wird gut angenommen.“

    Ein Bäckerwagen wird zum sozialen Treffpunkt

    Immer mehr Menschen kommen, kaufen Semmeln und plaudern ein bisschen mit der Verkäuferin. Dorfgespräche fanden früher in den kleinen Läden statt – weil es die nicht mehr gibt, ist nun die Straße vor dem Bäckerwagen der soziale Treffpunkt. Eineinviertel Stunden bleibt Christine Schmalholz in Nassenbeuren, dann fährt sie weiter. In das nächste Dorf ohne Bäcker. Sechs Orte liegen auf ihrer Route – und immer, wenn sie gegen halb zwölf wieder nach Dirlewang zurückkehrt, ist die mobile Bäckerei nahezu ausverkauft.

    Angebote wie dieses bringen nicht nur Lebensmittel ins Dorf – sondern beliefern die Menschen auch mit einem Stück Unabhängigkeit. Gerade für Senioren, die nicht mobil sind, sind solche Konzepte ein Stück Lebensqualität. Sie bieten den Menschen die Chance, selbstständig zu bleiben, einfach mit der Einkaufstasche vor die Tür zu gehen und sich eine Brotzeit zu kaufen – ohne mobile Angebote geht das meist nicht. „Senioren, die nicht selbst mit dem Auto fahren können, haben es schwer“, sagt Martha Paul.

    Die 76-Jährige steht unter dem weißen, ausgeklappten Vordach des Bäckerbusses und packt einen Brotlaib in ihren Weidenkorb. Noch könne sie zwar selbst fahren. „Aber man weiß ja nie“, sagt sie, verabschiedet sich von der Verkäuferin und biegt nach links in eine schmale Straße ein. Während sie ihren Einkauf nach Hause trägt, erzählt sie. Vom Leben auf dem Land. Von Erinnerungen an damals. Und von der Sorge vieler Senioren, es irgendwann nicht mehr alleine zu schaffen. Vor einigen Jahren hat Martha Paul am eigenen Leib erfahren müssen, wie schnell man auf andere angewiesen sein kann. Sie hatte einen Hörsturz und schaffte es nicht mehr, mit dem Auto die zehn Minuten nach Mindelheim zu fahren. „Das ist schlimm, wenn man für jede Kleinigkeit jemanden braucht“, sagt sie.

    Der Dorfladen als ein Heile-Welt-Symbol

    In Nassenbeuren gibt es zwar einen Bahnhof, eine echte Alternative sei der aber nicht. Vor allem, weil man von der Station in Mindelheim noch ein gutes Stück zu den Geschäften laufen müsse, um dann, mit Tüten bepackt, wieder heimzufahren. Nichts für ältere Menschen, die nicht gut zu Fuß sind. Ein kleiner Dorfladen wäre da um einiges praktischer, sagt Martha Paul. Deswegen glaubt sie auch: Gäbe es wieder ein Geschäft in Nassenbeuren, würde das auch von den Menschen angenommen werden.

    Nassenbeuren - wenige Geschäfte, wenig Betriebsamkeit.
    Nassenbeuren - wenige Geschäfte, wenig Betriebsamkeit. Foto: Ulrich Wagner

    Professor Thomas Roeb, der sich an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg auf Handelsbetriebslehre spezialisiert hat, sieht das anders. „Drei Viertel der Menschen würden sagen, dass es schade ist, dass es keine Tante-Emma-Läden mehr gibt. Aber drei Viertel sagen auch, dass sie dort nie eingekauft haben.“ Der Wunsch nach kleinen Dorfläden sei oft die Suche nach einer Bindung, man klammere sich an Heile-Welt-Symbole.

    Tatsächlich aber kaufen die meisten Leute dann doch lieber in großen Supermärkten in Gewerbegebieten, mit tausenden Produkten, und breiten, ausgeleuchteten Gängen. Wo es nicht nur hunderte kostenlose Parkplätze gibt, sondern auch noch einen Discounter, einen Drogeriemarkt und einen Fastfoodladen. Fachmarkt-Agglomeration nennt sich so etwas – und das sei derzeit das Non-Plus-Ultra des ländlichen Einzelhandels, sagt Roeb. Für die Kunden, aber auch für die Händler. Konkurrenz belebe schließlich das Geschäft – wer sich eine Gesichtsmaske im Drogeriemarkt kauft, gehe dann vielleicht noch zum Discounter oder einen Happen essen.

    Reihenweise müssen Bäckereien schließen

    Auch mit dem Sterben der Bäckereien hat sich der Handelsexperte beschäftigt. Seiner Ansicht nach gibt es vor allem einen Grund, warum immer mehr traditionelle Geschäfte dichtmachen: „Die gehen unter, weil sie zu teuer sind“, sagt Roeb. Hinzu komme, dass viele Bäcker nicht mehr Qualität als billigere Ketten böten. Außerdem fänden viele Bäcker keinen Nachfolger, der den Betrieb übernimmt. Roebs Prognose ist düster: „In 20 Jahren geht mindestens ein Viertel aller Bäcker verloren.“

    Einer, den diese Entwicklung bereit eingeholt hat, ist Alois Dießenbacher. Seine Handwerksbäckerei in Nassenbeuren hat er vor 15 Jahren aufgegeben. Nun sitzt er an seinem Küchentisch, auf dem ein Palmkätzchengesteck mit grün-weiß gestreiften Ostereiern steht. „Ich habe damals aus gesundheitlichen Gründen aufgehört. Und weil ich keine Rendite mehr hatte. Wir haben Verlust gemacht“, sagt er und verschränkt die Arme vor seinem roten T-Shirt. Bis in die 80er Jahre sei noch alles gut gewesen. „Aber dann hat in Mindelheim ein Supermarkt nach dem anderen aufgemacht. Und dann war’s passiert.“ Dießenbacher blickt aus dem Fenster, hält kurz inne und sagt dann: „Bäcker haben es schwer. In den ganzen kleinen Dörfern haben sie serienweise aufgehört.“

    Dießenbachers Geschäft ist Geschichte. An der Stelle, wo er früher Brot und Semmeln gebacken hat, ist heute eine Baustelle. Der Blick auf die braune Erde, den Bauzaun und den Kran, dessen Silhouette sich vom blauen Frühlingshimmel abhebt, ist ein Blick in die Zukunft. In eine Zukunft ohne Läden.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden