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Allgäu: NS-Euthanasie: Das Vermächtnis des Ernst Lossa

Allgäu

NS-Euthanasie: Das Vermächtnis des Ernst Lossa

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    Die Geschichte von Ernst Lossa kommt ins Kino.
    Die Geschichte von Ernst Lossa kommt ins Kino. Foto: Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren /Archiv

    Ermutigendes Schulterklopfen hat Ulrich Limmer oft erhalten in den vergangenen Jahren. Und eine Bestätigung dessen, von dem er ohnehin überzeugt ist. „Der Film, den du machst, ist wichtig.“ Aber als es um die Finanzierung ging, reichte die Begeisterung meistens nicht mehr aus: „Nicht mit meinem Geld.“

    Der Münchner Filmproduzent fand letztlich doch genügend Geldgeber, obwohl seinen Gesprächspartnern klar war, dass die Menschen im Frühjahr 2016 vermutlich nicht die Kinos stürmen werden, obwohl dort ein aufwendig hergestellter Film mit exzellenten deutschen Schauspielern zu sehen sein wird. Diese Woche ist in Augsburg und Umgebung gedreht worden. Es ist keine leichte Komödie, die das Publikum dort erwartet. Es ist kein Mainstream-Kino, sondern „mein schwierigster und anspruchsvollster Film, den ich bislang produziert habe“, sagt Limmer. Er bezieht das nicht nur aufs „Klinkenputzen“, sondern vor allem auf das Thema.

    Basierend auf dem Tatsachenroman des Allgäuers Robert Domes („Nebel im August“) wird das Schicksal von Ernst Lossa (1929-1944) nacherzählt, der als Jugendlicher in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee umgebracht wurde. Er war eines der Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms. Zwischen 1939 und 1945 wurden rund 275000 Patienten getötet, weil sie nach NS-Lesart als „lebensunwert“ galten. Demnach nutzten sie der „Volksgemeinschaft“ nicht, sondern lagen ihr vielmehr auf dem Geldbeutel. Adolf Hitler war der Gedanke unerträglich, dass ein Kriegsverletzter ohne Bett ist, weil es ein Geisteskranker belegt.

    Lossa geriet in diese tödliche Maschinerie. Er war aufsässig und unangepasst. In zwei Kinderheimen wurde man mit dem „asozialen Psychopathen“ – die Einschätzung einer Gutachterin und zugleich sein Todesurteil – nicht fertig. Weil er „nicht erziehbar“ war, schob man ihn in die Hölle ab: nach Irsee.

    Hälfte der Drehtage vorüber

    „Immer wenn ich das Bild dieses Jungen sah, dachte ich: Diese Geschichte muss erzählt werden“, sagt Produzent Limmer zu seiner Motivation. Und wenn er diesen Satz hinter einer weißbauchigen Kanne Tee sitzend in einem Augsburger Hotel ausspricht, dann sieht man dem Mann, zehn Jahre nach Kriegsende geboren, an, dass ihn Lossas Geschichte bewegt.

    Am Mittwochabend hat das Filmteam in der Augsburger Innenstadt verspätet „Bergfest“ gefeiert. Die Hälfte der auf 40 Tage angesetzten Dreharbeiten ist vorüber. Üblicherweise wird den Beteiligten schon einmal eine Auswahl der entstandenen Filmsequenzen gezeigt. Diesmal nicht. Denn an einen geselligen Abend, an dem auch mal herzhaft gelacht wird, wäre dann nicht mehr zu denken gewesen. „Das spricht für den Film, nicht gegen ihn“, sagt Limmer, Geschäftsführer der Collina-Filmproduktion und zugleich als Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film München tätig.

    Seit Sonntag inszenierte Regisseur Kai Wessel in der Region. Mehrere Tage auf einer Wiese bei Kissing (Kreis Aichach-Friedberg) und dann in Augsburg: in der Nacht von Donnerstag auf Freitag im Goldenen Saal. Ein Nebenraum hat sich in ein Filmset verwandelt. Im Frühjahr wird auf der Kinoleinwand in dieser Szene zu sehen sein, wie Dr. Werner Veithausen als Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Kollegen von den Vorzügen einer Hungerkost überzeugt. Die nahezu eiweiß- und fettlose Nahrung diente dazu, die Menschen buchstäblich zu Tode zu hungern. Dahinter steckte der perverse Gedanke, dem Leidenden ein Ende zu bereiten, wenn man das Leiden schon nicht abstellen kann.

    Bis auf Lossa haben die Filmfiguren nur ähnlich klingende Namen – in Wirklichkeit hieß der barbarisch agierende Arzt in Irsee Valentin Faltlhauser. „Damit wollen wir deutlich machen, dass sich die Geschichte Lossas überall zu dieser Zeit in Deutschland abgespielt hat und nicht nur an einem bestimmten Ort“, sagt Limmer. Es sei auch 70 Jahre später nicht zu begreifen, wie die „Perfektionierung des Bösen“ in diesem Land funktioniert habe.

    "Wir machen diesen Film, damit so was nie mehr passiert"

    Einer der Nachfolger Faltlhausers war Michael von Cranach, 26 Jahre lang bis 2006 Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Mit Nachdruck forschte er in der braunen Vergangenheit seines Hauses und thematisierte die Euthanasieverbrechen unter anderem in einer Ausstellung. Für den Film „Nebel im August“ ist der Psychiater historischer und medizinischer Berater. Seine Frau bietet einmal in der Woche für das Filmteam eine psychologische Betreuung an. Denn die Arbeit mit dem Stoff hinterlässt Spuren. Und nicht jeder ist immun gegen diese unfassbaren Vorgänge.

    Von Cranach sieht vor allem zwei Motive, wie Ärzte in der NS-Zeit zu diesen Unmenschen werden konnten: Viele seien begeisterte Nationalsozialisten gewesen. Und: „Die Behandlungsmethoden waren sehr eingeschränkt und die Ärzte wollten nicht mit ihrem Versagen konfrontiert werden.“ Da habe die Frage nahe gelegen, wer behandlungsfähig sei und wer nicht und – weiter gedacht – wer lebenswert sei und wer nicht. Von Cranach: „Es bestand eine enge Beziehung zwischen Heilen und Vernichten.“

    Die Wirkung scheint der Film nicht zu verfehlen, weiß Ulrich Limmer aus der eigenen Familie. Seine 13-jährige Tochter nahm er einmal in den Schneideraum mit. Sie sah sich einige Szenen an, sei ganz ruhig geworden. „Danach hat sie geweint und mich gefragt, wie Menschen nur so grausam sein können.“ Eine passende Antwort hatte der Vater nicht – oder vielleicht doch? „Wir machen diesen Film, damit so was nie mehr passiert“, sagte er der Tochter. Sie ist nur wenig jünger, als Ernst Lossa kurz vor seinem qualvollen Tod war. "Kommentar

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