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Bayern: Sexuell missbraucht: Die Geschichte eines Odenwaldschülers

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Sexuell missbraucht: Die Geschichte eines Odenwaldschülers

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    Der Autor Andreas Huckele, ehemaliger Schüler der Odenwaldschule.
    Der Autor Andreas Huckele, ehemaliger Schüler der Odenwaldschule. Foto: Victoria Bonn-Meuser, dpa

    Warum hat er nicht früher Nein gesagt? Warum hat er sich nicht früher gegen seinen Peiniger gewehrt? „Weil ich nicht konnte.“ Andreas Huckele wurde jahrelang sexuell missbraucht. Jahrelang hat er geschwiegen, sich geschämt. Jahrelang war er wie erstarrt, verstört, hilflos, ohnmächtig vor Ekel und Angst. In seinem Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien?“, das er bei Rowohlt unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers veröffentlichte, erinnert sich Huckele an den Moment im Jahr 1985, als er in der Lage war zu kämpfen. „Ich stieß ihn weg.“

    Er war damals erst 16 Jahre alt

    Damals war er 16 Jahre alt. Doch mit dem Wegstoßen des Täters war der Missbrauch nicht aus der Welt. Er ist bis heute nicht aus seinen Gedanken und seiner Gefühlswelt verschwunden. „Jede Form von sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist Seelenmord“, sagt er.

    Nicht nur Schulleiter Becker war Täter, sondern auch Lehrer

    Die Geschichte von Andreas Huckele alias Jürgen Dehmers steht heute für den beispiellosen Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule in Ober-Hambach bei Heppenheim. Gerold Becker war ein deutschlandweit berühmter und hochverehrter Leiter der reformpädagogischen Vorzeigeeinrichtung – und er war ein pädokrimineller Täter. Er hat sich über Jahrzehnte hinweg an seinen Schülern vergriffen. „Wortlos“, „schamlos“, sagt Huckele. Doch nicht nur er missbrauchte seine Schüler, sondern mindestens sechs weitere Lehrer und eine Lehrerin.

    132 Schüler der Odenwaldschule wurden sexuell missbraucht

    Die Zahl der Opfer wird im Dezember 2010 im Abschlussbericht einer von der Odenwaldschule in Auftrag gegebenen Untersuchung der Missbrauchsfälle mit 132 angegeben: 115 männliche und 17 weibliche Betroffene.

    Huckele leidet seit den Übergriffen an Klaustrophobie

    Noch heute, über 30 Jahre später, kämpft Andreas Huckele mit den Folgen des Missbrauchs. Als er zum Beispiel vor einigen Wochen in Würzburg bei einer Fachtagung aus seinem Buch las, überfiel ihn an der Schranke zum Parkplatz eine Panikattacke. Drei Autos standen vor ihm, mehrere hinter ihm. Er fühlte sich eingekeilt, sein Puls raste, sein Blick wurde starr, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. „Ich leide unter Klaustrophobie.“

    Andreas Huckele weiß, wie er damit umgehen muss. „Nach fünf Minuten habe ich mittlerweile mein System wieder runtergefahren – und nicht erst nach fünf Tagen.“ Wenn möglich, vermeidet er jedoch Flugreisen, auch Zugfahrten – Situationen oder enge Umgebungen, die ihm keine Fluchtmöglichkeit lassen.

    Sein Körper ist in ständiger Alarmbereitschaft

    Seit der Missbrauchserfahrung steht sein Körper unter Alarmbereitschaft. Er ist extrem reizempfindlich, achtet auf kleinste Geräusche. „Willentlich kann ich das nicht abstellen. Mein Körper reagiert auf alles und checkt ab, ob eine Gefahr im Anzug ist. Dieses unbewusste Alarmsystem ist über die Jahre hinweg geschult worden, es funktioniert auch noch Jahre nach meiner Zeit an der Odenwaldschule.“

    Als er die Schule verließ war er körperlich und seelisch ein Wrack

    Früher war Alkoholkonsum bis zur Besinnungslosigkeit seine Überlebensstrategie. Andreas Huckele war bereits als Schüler süchtig. Er konnte die Welt kaum ertragen. Jeden Morgen kam Gerold Becker an sein Bett, quälte ihn, danach seinen Zimmernachbarn. Wen sonst noch, danach fragte der traumatisierte Schüler damals nicht. Er war sprachlos. Die anderen auch. Als er 1988 die Schule verließ, war er körperlich und seelisch ein Wrack.

    Weil die Opfer schwiegen, gab es für Vergewaltiger keine Folgen

    Als Gerold Becker Ober-Hambach verließ, war er aber nach wie vor ein angesehener Pädagoge. Seine Opfer litten überwiegend stumm. Und die Odenwaldschule? „Sie unternahm nichts“, sagt Huckele. „Wir regeln das intern“, hieß es dort lediglich.

    Der Tod als letzter Ausweg

    Wie Andreas Huckele geht es den meisten Missbrauchsopfern. Ihnen wird nicht geglaubt und nicht zugehört. Oft dauert es 15, eher 20 Jahre, bis sie darüber reden können. Viele spalten die quälenden traumatischen Erlebnisse ab, sodass sie nicht ins Bewusstsein treten. Viele Missbrauchsopfer spüren jedoch in ihrem Inneren einen tiefen Abgrund. Ein dunkles Loch. Manche werden selbst zu Tätern. Manche sehen nur im Suizid einen Ausweg aus ihrer nicht beschreibbaren Verzweiflung. Vor wenigen Wochen wurde ein weiterer Mitschüler Huckeles in Frankfurt beerdigt. Er starb an den Folgen seines Alkoholismus.

    Huckele traute sich zu reden, aber keiner hörte ihm zu

    Andreas Huckele suchte Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern, in der Traumatherapie – und beim Sport. Er läuft Marathon. Und er beschließt, sein Schweigen zu brechen. Auslöser war ein Anruf seines Freundes im Jahr 1998. Gerold Becker sei wieder an der Odenwaldschule tätig. Ein Schock für Andreas Huckele. Er wurde wieder zum Schüler, fühlte wieder die Angst, aber auch Wut und Zorn. Er beschloss zu handeln und meldete sich mit seiner Geschichte bei mehreren Zeitungen. Nur eine reagierte: 1999 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Artikel über den ungeheuerlichen Missbrauch an der Odenwaldschule. Ein Echo blieb jedoch aus. Die Öffentlichkeit schenkte dem keine Beachtung. Niemand schien sich für den Bericht zu interessieren.

    "Es herrscht eine Kultur des Wegschauens", sagt Huckele

    Kein neues oder einzigartiges Phänomen. Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern war – und ist teilweise immer noch – mit einem Tabu belegt. Darüber redet man nicht. Man will es nicht wahrhaben, nicht glauben. „Es herrscht eine Kultur des Wegschauens“, sagt Huckele.

    Erst zehn Jahre später wird die Odenwaldschule zur Rechenschaft gezogen

    Erst über zehn Jahre später, als im Januar 2010 die Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kolleg und anschließend in anderen katholischen Einrichtungen durch Priester und Ordensleute publik wurden, war das Entsetzen zum ersten Mal groß. Erneut erschien daraufhin ein Artikel in der Frankfurter Rundschau über die Vorkommnisse in der Odenwaldschule. Dieses Mal wurde er nicht mehr ignoriert. Ein Jahr später kam das Buch von Andreas Huckele auf den Markt. Damals benutzte er noch das Pseudonym Jürgen Dehmers, damit er in Ruhe leben und arbeiten konnte. Monatelang stand damals das Thema Missbrauch, vor allem in kirchlichen Einrichtungen, im Fokus der Öffentlichkeit. Auch die Odenwaldschule, die 2010 ihr hundertjähriges Bestehen feiern wollte, gab dem öffentlichen Druck nach und eine Untersuchung in Auftrag. Dann kehrte wieder Ruhe ein.

    Verändert hat sich dennoch nicht viel

    Die meisten Opfer schweigen seither wieder, weil ihnen nicht wirklich geholfen worden ist. Der Aufarbeitungsprozess, kaum hat er begonnen, ist mehr oder weniger wieder eingeschlafen. Andreas Huckele findet das unerträglich und hat sich wieder zu Wort gemeldet: weil sich seiner Meinung nach kaum etwas verändert hat seit 2010. Nicht nur in der Gesellschaft, in der Politik, bei pädagogischen Maßnahmen, auch in der Odenwaldschule nicht. „Es wird halt so weitergemacht. Nicht mehr so fröhlich. Nicht mehr so selbstbewusst. Aber immer so weiter“, schreibt er in seinem Aufsatz mit dem Titel „Macht, Sexualität, Gewalt“ (bei Rowohlt als elektronische Publikation erschienen).

    Missbrauchsbeauftragter der Regierung fordert mehr Konsequenz beim Schutz unserer Kinder

    Auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, klingt im jüngsten Bilanzbericht nicht zufrieden mit dem Aufarbeitungsprozess. „Die Bundespolitik darf jetzt keinen Schlussstrich unter das Thema Missbrauch ziehen“, forderte er im vergangenen August. „Es wird die Aufgabe der Politik nach der Bundestagswahl sein, konsequenter und mit mehr Mitteln für den Schutz unserer Kinder vor sexuellen Übergriffen zu sorgen.“ Ursachen, Ausmaß und Folgen von Missbrauch müssten endlich systematisch untersucht, ausgewertet und veröffentlicht werden. Nur dann könnte eine gesellschaftliche Ächtung erreicht werden.

    Das bestehende System ermöglicht erst den Wahnsinn

    Huckele sagt: „Es gibt nach wie vor diese Strukturen, die Grenzüberschreitungen gegenüber Kindern und Jugendlichen begünstigen. Es ist nicht die Person, die diese Taten alleine vollbringt, sondern es ist ein bestimmtes System, ein Netzwerk, das diesen Wahnsinn erst ermöglicht.“ Nach Ansicht des ehemaligen Schülers wäre es 2010 dringend nötig gewesen, die Odenwaldschule zu schließen.

    Statt ausreichender Diskussion gibt es nur Ausreden

    Aber nicht nur dort, auch in anderen pädagogischen Einrichtungen oder in Sportvereinen gebe es zumeist noch immer keinen ausreichenden Diskurs über Grenzen und keine kritische Reflexion des Umgangs miteinander, dafür viele Ausflüchte und Irrtümer. Etwa: „Es passiert nicht hier. Da war mal was in der Vergangenheit, aber jetzt ist alles wieder gut.“ Oder: „Das war mal ein Einzeltäter, der ist jetzt weg und damit die Gefahr gebannt.“

    Ohne Hilfe von Außen wäre Andreas Huckele heute nicht mehr am Leben

    Missbrauch geschehe jedoch nach wie vor, ist sich Huckele sicher, und er sei für Betroffene nicht nur mal kurz unangenehm und dann vorbei. „Bei Traumatisierungen heilt Zeit keineswegs Wunden, im Gegenteil, sie werden immer schlimmer, weil die Kompensationsmöglichkeiten nach und nach versagen“, beschreibt Andreas Huckele die Auswirkungen. Er hat sie selbst erlebt und er ist überzeugt: Wäre er nicht zu den Anonymen Alkoholikern gegangen, würde er heute nicht mehr leben. Und hätte er nicht den richtigen Traumatherapeuten gefunden, dann könnte er heute kaum öffentlich agieren, Lesungen halten, seinen Beruf als Lehrer ausüben, eine Beziehung führen – am „normalen“ Leben teilnehmen.

    Missbrauchsopfer fordern Abschaffung der Verjährungsfristen für Täter

    Mit anderen Missbrauchsopfern und Missbrauchsbeauftragten erhebt er aber auch politische Forderungen: Die Verjährungsfristen nach sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen müssten endlich aufgehoben werden. Für Opfer sei es unerträglich, so Huckele, wenn sie den Täter nicht als solchen bezeichnen dürften, weil der Missbrauch verjährt ist, wenn sie ihn aufgrund ihrer Traumatisierung erst nach Jahrzehnten benennen können.

    Für seinen Mut bekam Huckele den Geschwister-Scholl-Preis

    „Wollen wir weiter hinnehmen, dass die Rechtslage und die Strukturen in unseren pädagogischen Einrichtungen die Täter schützen und nicht die Kinder?“ Diese rhetorische Frage stellte Andreas Huckele in seiner Dankesrede: 2012 bekam er den Geschwister-Scholl-Preis, weil er es gewagt hat, mit seinem Buch das Schweigen zu durchbrechen.

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