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Schicksale: Flüchtling springt vor Auto: Schlaglicht auf die Flüchtlingskrise

Schicksale

Flüchtling springt vor Auto: Schlaglicht auf die Flüchtlingskrise

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    Tanja Schmidt möchte nicht erkannt werden. Sie sitzt am Steuer ihres Wagens. Der tragische Unfall, als ihr ein Asylbewerber vor das Auto lief, verfolgt die Frau bis heute.
    Tanja Schmidt möchte nicht erkannt werden. Sie sitzt am Steuer ihres Wagens. Der tragische Unfall, als ihr ein Asylbewerber vor das Auto lief, verfolgt die Frau bis heute. Foto: Sabine Tesche

    Diesen Abend vor einem Jahr wird Tanja Schmidt niemals vergessen. Das Leben der Frau verändert sich von einem Moment zum anderen. Ein Mann springt in ihr Auto, während sie nach der Arbeit auf der Landstraße nach Hause fährt. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Er wird später an den schweren Verletzungen sterben. Das Opfer kommt aus Somalia, flüchtete vor Folter und Gefangenschaft nach Deutschland und wartete auf seinen endgültigen Asylbescheid.

    Mona Schramm kannte den jungen Mann gut. Heute arbeitet die 25-Jährige als Leiterin in einer Asylgemeinschaftsunterkunft. Damals war sie als Sachbearbeiterin für zwei Unterkünfte zuständig. In einer wohnte Ibrahim M. aus Somalia. „Er war sehr nett, zuvorkommend und freundlich“, erinnert sie sich. „Doch wie fast alle anderen Flüchtlinge hatte er auch psychische Probleme.“ Man müsse sich vor Augen halten, „dass diese Menschen ja nicht hierherkommen, um Urlaub zu machen, sondern weil sie auf der Flucht sind vor Gewalt und Tod“, sagt Schramm.

    Wenige Tage vor dem Unfall erhielten Ibrahim M.’s Freunde einen negativen Asylbescheid. „Er hatte furchtbar Angst, dass auch er gehen muss“, erzählt Mona Schramm. „Dabei waren das andere Fälle, die kamen vom Balkan.“ Sie versuchte, ihm die Lage zu erklären. „Doch seine Augen sahen aus, als müsse er zurück in die Hölle.“

    Routine verwandelt sich in einen Albtraum

    An jenem Nachmittag auf einer Landstraße in der Bodenseeregion freut sich Tanja Schmidt auf den Feierabend und die Familie. Wie jeden Tag. Schlagartig verwandelt sich schöne Routine in einen Albtraum. Es knallt ohrenbetäubend, Tanja Schmidt bremst und schaut in zwei große Augen. Sie gehören zu einem Körper, der auf ihre Windschutzscheibe schlägt und im nächsten Moment auf die Straße katapultiert wird. „Ich werde das immer vor mir haben“, sagt sie später mit gedämpfter Stimme. „Unvorstellbar. Dieser Blick.“

    Tanja Schmidt, die in Wirklichkeit anders heißt, ruft den Rettungsdienst gleich nach dem Aufprall, springt aus dem Auto, leistet Erste Hilfe. „Man handelt wie in Trance“, erinnert sie sich. „Das läuft wie in einem Spielfilm ab.“

    Sie wird erst später erfahren, als die Polizei wegen des Unfalls gegen sie wegen fahrlässiger Tötung ermittelt und es zum Prozess kommt, was ihr an jenem Nachmittag wirklich widerfahren ist. Erst langsam offenbart sich die ganze Tragödie hinter dem Tod des Flüchtlings in seiner Wunschheimat Deutschland.

    Wie verzweifelt muss man sein?

    Zeugen sagen später aus, dass der Somalier in den Tagen vor dem Unfall bereits versucht hat, absichtlich vor ein fahrendes Auto zu springen. Der Mann sei depressiv und wollte sich offenbar das Leben nehmen, heißt es. Am Mittag des Unfalltages hatten Bekannte des Flüchtlings die Heimleitung benachrichtigt. Ein Mitbewohner erzählte, der Somalier sei in Hungerstreik getreten und nun verschwunden.

    Mona Schramm fügt hinzu: „Er hat sich sogar selbst die Hand an einer Herdplatte verbrannt“, erzählt sie. „Wie verzweifelt muss man sein, um zu solchen Methoden zu greifen?“ Verletzte oder Kranke dürfen nicht abgeschoben werden. Ibrahim M. wollte keine ärztliche Hilfe, obwohl sie ihm zugestanden hätte. Sucht ein Flüchtling Hilfe oder benötigt er offenkundig psychologische Hilfe, kann ein konsultierter Allgemeinarzt eine Überweisung schreiben. Zusammen mit einem Sozialarbeiter und einem Dolmetscher geht der Betroffene dann zum Psychologen. „Die meisten sind zu stolz dazu“, sagt Heimleiterin Schramm. „Und sie kennen unser Gesundheitssystem nicht richtig.“

    Flüchtlinge leiden unter den Folgen von Krieg und Flucht

    Posttraumatische Belastungsstörungen durch Krieg, Flucht und Vertreibung sind unter den Flüchtlingen ebenso weit verbreitet wie Depressionen. Beide Erkrankungen gehen häufig Hand in Hand. Flüchtlinge, die darunter leiden, haben oft Suizidgedanken. Laut Studien haben bis zu 40 Prozent von ihnen bereits konkrete Pläne, sich das Leben zu nehmen, oder es sogar schon tatsächlich versucht. Auch bei Flüchtlingskindern sind diese Erkrankungen aufgrund traumatischer Erlebnisse häufig. Jedes fünfte ist davon betroffen.

    Das ist 15-mal häufiger als bei Kindern, die in Deutschland geboren wurden. Doch nur rund vier Prozent der psychisch kranken Flüchtlinge erhalten eine Psychotherapie. „Psychische Erkrankungen zählen zu den häufigsten Erkrankungen von Flüchtlingen“, sagt Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. „In aller Regel sind sie dringend behandlungsbedürftig“, erklärt er. „Die Flüchtlinge benötigen nicht nur Unterkunft und Lebensmittel, sondern auch unbedingt psychologische Hilfe.“ In der sicheren neuen Heimat Deutschland macht vielen Flüchtlingen zudem quälende Einsamkeit zu schaffen.

    Auch Schmidt braucht nach dem Unfall Hilfe

    Tanja Schmidt wird in ihrem Prozess schließlich vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Bis dahin erlebte sie fürchterliche Monate. Heute kommt ihr die Situation surreal vor. „Es ist so, als würde ich mich selbst dabei beobachten“, erklärt sie. Auch sie braucht nach dem Unglück seelsorgerische Hilfe „Ich habe gar nicht realisiert, dass ich unter Schock stand.“ Heute ist sie dankbar für die medizinische Hilfe, obwohl sie damals überzeugt war, dass ihr der tragische Unfall nicht so nahegehen würde. „Ich war wie gelähmt.“ Ein Netzwerk aus Familie, Freunden, Kollegen, Chefs, Betreuern und Anwalt unterstützt sie. „Das hilft mir sehr und gibt mir bis heute ein gutes Gefühl der Rückendeckung.“

    Auf ihren Schultern lastete nicht nur der tragische Tod des jungen Flüchtlings. Die Autobahnpolizei ermittelte lange wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Am Ende ergaben die Gutachten der Sachverständigen, dass sie den Unfall nur hätte verhindern können, wenn sie mit 67 Stundenkilometern gefahren wäre. Tatsächlich war sie mit 85 unterwegs, erlaubt waren an der Unfallstelle allerdings 100.

    Der Zustand der völligen Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit hielt an. Ihr Arbeitgeber war von Beginn an informiert. Heute bezeichnet sie es als „fantastisch, wie wertschätzend meine Chefs reagiert haben. Sie haben mir ihre volle Unterstützung zugesagt.“

    Der Unfall begleitet Tanja Schmidt seither. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht an den jungen Mann denken muss. Eine Frage nagt an ihr: Warum wollte sich der junge Mensch das Leben nehmen? Der Glaube an Gott hilft ihr. „Doch das Leben des jungen Menschen ist leider vorbei“, erzählt sie. „Da ist eine Mutter irgendwo in Afrika, die ihren Sohn nicht mehr hat. Daran ändert mein Freispruch nichts.“

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