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Gesellschaft: Was ist eigentlich gerecht?

Gesellschaft

Was ist eigentlich gerecht?

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    Was ist gerecht? Jede Religion, jeder Philosoph hat sich bereits damit bereits beschäftigt.
    Was ist gerecht? Jede Religion, jeder Philosoph hat sich bereits damit bereits beschäftigt. Foto: Daniel Reinhardt (dpa)

    Ist das gerecht? Ich meine, in Zeiten, in denen gerne mal von „Mainstream“ und vermeintlichen Meinungsmonopolen die Rede ist, kann man die Frage ja mal stellen: Ist das also gerecht, dass ich mich heute hier an relativ exponierter Stelle über das Thema Gerechtigkeit auslassen kann, der Herr Maier, Huber, Nachbar aber nicht? Und warum ist das so? Zufall? Wegen der Deutsch-Noten damals (Achtung, war auch mal ne Fünf dabei)?

    Wer weiß. Vor allem aber liegt das natürlich erst einmal an der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, in denen so gut wie jeder sich spezialisiert oder eine spezifische Aufgabe hat (es sei denn, es geht um Fußball). Und in denen niemand auf die Idee käme, etwa sein Auto aus Gründen irgendeiner Gerechtigkeit selbst zu reparieren, geschweige denn mal kurz mit einer Klofrau auf dem Plärrer zu tauschen – was gleichwohl manch einem Volksfestbesucher aus pädagogischen Gründen dringend zu empfehlen wäre.

    Man sieht jedenfalls schon daran: Gerechtigkeit hat erst einmal wenig mit dem zu tun, mit dem sie oftmals gleichgesetzt wird: Mit Gleichheit nämlich, zumindest, was ein oberflächliches Verständnis davon anbelangt. Vielmehr ist Ungleichheit besagten modernen Gesellschaften – in ihrer jetzigen Form – strukturell eingeschrieben. Und je nach persönlicher Lebenslage versteht man darunter ja auch meist etwas grundsätzlich Anderes.

    Jede Religion hat sich mit der Gerechtigkeit beschäftigt

    Was aber ist Gerechtigkeit dann? Die Behutsamen antworten: Gleiche Rechte, gleiche Chancen – solche Sachen. Die weniger Behutsamen schlagen und schlugen sich über dieser Frage hingegen die Köpfe ein. Vielleicht kann man ohnehin feststellen, dass diese Frage, die Frage nach der Gerechtigkeit also, ein wesentlicher Attraktor gesellschaftlicher Entwicklung ist, Marx’ und Engels’ Diktum von der Geschichte der Gesellschaft als eine Abfolge von Klassenkämpfen also mindestens um den Kampf um Gerechtigkeit ergänzt werden muss (was nicht dasselbe ist).

    Denn schließlich haben sich schon früh so gut wie sämtliche Religionen mit dem Thema auseinandergesetzt, frühe Handlungsanleitungen herausgegeben, von denen eine der berühmtesten im christlichen Kulturkreis jeder kennt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40). Es geht hier allerdings weniger um ein ausgefeiltes ethisches Prinzip der Gerechtigkeit als vielmehr – typisch Jesus, möchte man sagen – um Barmherzigkeit einer- und vor allem die Entlarvung der (Selbst-)Gerechten andererseits.

    Barmherzigkeit alleine macht aber noch keine gerechte Gesellschaft, wenn auch eine Gesellschaft, in der diese fehlt, keine gerechte sein kann. Zu sehen ist das auch bei den antiken griechischen Philosophen, die wie etwa Platon noch ganz der Polis verhaftet waren, Gerechtigkeit also im Sinne des Gemeinwesens und nicht vom Individuum her gedacht haben – was in einer Sklavenhalter-Gesellschaft nicht verwundert.

    Anders herum, aber auch das Ganze im Blick, haben Spielarten des auf John Stuart Mill zurückgehenden Utilitarismus, nach dem – sehr verkürzt gesagt – eine Handlung dann gerechtfertigt ist, wenn sie der Summe aller Betroffenen nützt. Ein schönes und fast zu jeder Wahl wieder aufgewärmtes Beispiel sind Slogans wie „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Dahinter steckt der Gedanke, dass, wenn die Rahmenbedingungen nur unternehmensfreundlich genug sind, auch genügend Arbeitsplätze anfallen, Löhne steigen etc., mit anderen Worten: dass, wenn es der Wirtschaft gut, es einfach allen besser geht.

    Was würde passieren, wenn man bei Null anfängt?

    Mit derselben Logik und je nachdem, ob man eher angebots- oder nachfrageorientierten wirtschaftswissenschaftlichen Modellen anhängt, ließe sich die Gleichung aber auch aus der anderen Richtung lesen: Geht es allen besser, tut das auch den Unternehmen gut. Mit anderen Worten: So pauschal in den Raum und gegenübergestellt handelt es sich erst einmal um Ideologie (unabhängig davon, dass es sehr wohl volkswirtschaftliche Situationen geben mag, in denen mal das eine, mal das andere Prinzip sinnvoll sein kann).

    Ideologisch argumentierend kommt man auf dem Weg zur Gerechtigkeit jedenfalls nicht sehr weit und landet stattdessen, zumindest im übertragenen Sinn, wieder beim eingangs erwähnten Köpfe-Einschlagen.

    Ganz anders ging der amerikanische Philosoph John Rawls vor, der mit seinem typisch angelsächsisch-pragmatischen Ansatz und der 1971 erschienenen „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ die Diskussion um das uralte Thema auf eine neue Stufe gestellt hat. Rawls’ Arbeitshypothese ist dabei ebenso einfach wie genial, weil sie weder von oben nach unten noch umgekehrt gedacht ist, weil sie weder vom Staat noch von der Wirtschaft noch vom Einzelnen mit seinen je eigenen Interessen herkommt.

    Ausgangspunkt der Verhandlungen über eine zukünftige gerechte Gesellschaft ist vielmehr die – angenommene – Unkenntnis des eigenen Status und die Position in einer solchen. Und wer jetzt nur einmal kurz die Augen schließt und sich vorstellt, er würde quasi bei Null starten, und sich überlegt, was das bedeuten würde und welche Bedingungen er dann mindestens in der Gesellschaft vorfinden wollen würde, der ahnt von der Kühnheit des Gedankens, den weitreichenden Folgen und vielleicht auch ein wenig, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen müsste. Rawls selbst spricht davon, „dass die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt werden“ – wie überhaupt der Begriff der Fairness einen zentralen Stellenwert einnimmt.

    Ungerechtigkeit ist Verschwendung von Ressourcen

    Nimmt man das ernst, so heißt das eben nicht, dass etwa alle das Gleiche verdienen, Vermögen gleich verteilt werden müssen. Das heißt aber sehr wohl, dass es fair zugehen muss – und dass es das tut, erscheint mit Blick auf die Entwicklung der Einkommensschere zwischen Managern und Arbeitern beziehungsweise Angestellten in den letzten Jahrzehnten zumindest zweifelhaft. Noch schwerwiegender aber erscheint im Sinne Rawls’ die nicht vorhandene Bildungs- und Aufstiegsgerechtigkeit. Es gibt genügend Studien, die nachweisen, dass wir gerade in Deutschland selbst von diesem minimal-idealen Zustand der Chancengleichheit noch weit entfernt sind. Fair ist das in der Tat nicht. Und darüber hinaus – wer immer noch handfestere Argumente braucht – eine immense Vergeudung von Talent, Ideen und am Ende auch volkswirtschaftlicher Ressourcen.

    Deswegen darf beim nächsten Mal gerne ein anderer zum Thema schreiben. Schon aus Gründen der Gerechtigkeit.

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