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Literatur: Achtung: Sex!

Literatur

Achtung: Sex!

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    Im Bild ist alles klar. Aber beschreiben Sie das mal!
    Im Bild ist alles klar. Aber beschreiben Sie das mal! Foto: Photographee.eu/Fotolia

    Liebe Leser, nehmen Sie die Überschrift bitte wörtlich. Denn das Phänomen des körperlichen Vollzugs zu erkunden bedeutet auch, einiges beim Namen nennen und manches ungefiltert zitieren zu müssen. Die drastischsten Stellen lassen wir gerne aus. Aber wo es um die Sache geht, geht es nun mal meist auch zur Sache. Wenn Sie also ein Wort wie etwa „vögeln“ stört, lesen Sie lieber nicht weiter.

    Einige Beispiele: Ist das gut? Also gut geschrieben?

    Zu Beginn, quasi zum Warmwerden, stellen Sie sich selbst die Frage: Ist das gut? Also gut geschrieben?

    „Sie war mehr als bereit für ihn, bog sich ihm entgegen und bewies ihm, wie sehr auch sie ihn begehrte. ‚Dann nimm mich  …‘ Das ließ sich Nikos nicht zweimal sagen. Er küsste sie stürmisch, legte sich auf sie und drang vorsichtig in sie ein. Es war überwältigend. Der Schmerz, den sie zuerst verspürt hatte, wurde unwichtig. Sie schienen den gleichen Herzschlag zu haben und waren eins geworden. Andrea schloss die Augen und ließ sich von den Wellen der Lust davontragen. Unwillkürlich passte sie sich Nikos’ Rhythmus an, und es kam ihr vor, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Seine Bewegungen wurden schneller, als sie Nikos dann leise aufschreien hörte, war es auch ihr Triumph, und als die Flutwelle sie auf den höchsten Gipfel der Lust trug, klammerte sie sich an ihn, bis sie beide schließlich die Erfüllung fanden, nach der sie so sehr gesucht hatten.“

    Und? Wer könnte so schreiben? Mann oder Frau? Martin Walser oder Michel Houellebecq, Elfriede Jelinek oder E. L. James?

    Nun, natürlich nichts von alledem. Denn natürlich ist das überhaupt keine Literatur. Sondern Kitsch. Aus dem neuesten Heftchenroman der unendlichen „Cora“-Reihe, diesmal mit: „Julia James: Wo heiß die Sonne brennt.“ So was schwante doch sicher jedem gleich, oder? Denn Sex in literarischer Qualität ist doch irgendwie anders. Irgendwie – glaubwürdiger?

    Darum zum nächsten Beispiel:

    „Seine Worte explodieren in meinem Kopf. Mein Körper bäumt sich auf, und als ich komme, rufe ich laut eine entstellte Version seines Namens. Christian folgt mit zwei harten Stößen und erstarrt, als er sich in mir ergießt. Dann sinkt er auf mir zusammen, sein Gesicht in meinen Haaren. ‚Himmel, Ana‘, ächzt er, gleitet aus mir heraus und rollt auf seine Seite des Bettes.“

    Ist das besser? Weniger kitschig? Glaubwürdiger?

    Zumindest ist es deftiger geschrieben. Ana und Christian – es ist das Traumpaar der erotischen Literatur der vergangenen Jahre, Haupthandlungsträger aus E. L. James’ „50 Shades of Grey“ in der Haupthandlung.

    Und noch drei letzte Beispiele:

    „In das Schwarzrote ihrer Scheidenschlucht den taghellen milchigen Samen träufeln, bis von allen Rändern und Wänden nur noch die lichten Samenschwaden flossen, die Schlucht überschwemmten und schlämmten.“  - Verzeihung, aber das ist tatsächlich Martin Walser in „Der Augenblick der Liebe“.

    „Sie spreizte die Beine und gab den Blick frei auf das Hässlichste, was Robert je gesehen hatte. Es sah aus wie Knetmasse. Wie ein zusammengeknüllter Oktopus, der in eine enge Höhle gestopft war. Wie das Schattenprofil von Alfred Hitchcock. Weiche, herabhängende Hautlappen mit etwas Nasenartigem in der Mitte. Und das sollte das Mysterium des Lebens sein? Er blickte weg und ließ sich auf ihr nieder, sein Penis war zusammengeschrumpft auf die Größe eines Shrimps.“ - Das schreibt Clemens J. Setz so unter anderem in seinem gefeierten Roman „Indigo“.

    „Soeben noch schlaff und abgenutzt / Nach so vielen Jahren Gebrauch / steht er / – und was Wunder! / Er steht –, / will von dir, mir und dir bestaunt sein.“ So dichtete in „Ein Wunder“ – Günter Grass.

    Früher gab es dreierlei: Kitsch, Pornografie, Literatur

    Es ist nur eine kleine Auswahl von dem, was Rainer Moritz in seinem Buch „Wer hat den schlechtesten Sex?“ versammelt. Noch dazu eine behutsame. Denn was zum Beispiel die Literaturnobelpreis-Trägerin Elfriede Jelinek in „Sex II“ in Szene setzt, wäre hier unmöglich druckbar. Oder Sybille Berg. Oder Gerhard Roth. Oder Michel Houellebecq. Oder Philip Roth … Nicht selten geht es um Gewalt und Exkremente – als drastische Effekte oder Abbild psychologischer Tiefe.

    Der Befund ist abseits geschmäcklerischer Vorlieben jedenfalls offenkundig. Früher gab es zumeist nur dreierlei: den eindeutigen Kitsch, die explizite Pornografie und die Literatur, die höchstens symbolisch andeutet, den Akt selbst aber übergeht. Ob Adalbert Stifter oder Heinrich von Kleist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber ist die Literatur immer mehr zum faktischen Ort des Beischlafs geworden.

    Und seitdem gibt es ein neues Problem: Wie nämlich über Sex schreiben, ohne öder Kitsch oder stumpfe Pornografie zu werden? Günter Grass hatte sich da als einer der ersten vorgewagt, noch in den Fünfzigern, in der „Blechtrommel“ und in „Katz und Maus“ – und entging mit beiden nur knapp der Verurteilung wegen Verbreitung jugendgefährdender Schriften.

    Schwierigkeit: Ohne verbale Klischees in Worten schildern

    Und auch wenn sich die gesellschaftlichen Maßstäbe inzwischen weit verschoben haben, es bleibt das Problem: Zur Kunst, zur Literatur wird der Sex dadurch, dass er mehr ist als eine bloße Schilderung mit dem Selbstzweck Erregung. Aber urteilen Sie selbst über das Gelesene. Ist E. L. James wirklich weit von „Cora“ weg? Wirkt Martin Walser nicht gerade in seiner Gekünsteltheit so verschwurbelt, dass es einen gruseln oder kichern macht? Und ist Clemens J. Setz besser, weil er das zu Erwartende gewitzt bricht?

    Rainer Moritz sieht das ungefähr so und findet Setz darum von all den expliziten Zeitgenossen noch am wenigsten schlecht. Knapp gefolgt von Charlotte Roche, die mit „Feuchtgebiete“ ja eine Art Erotik-Bestseller landete, obwohl sie die bloße Erregung geschickt mit Absurdität und Ekel unterlief.

    Ihnen allen gemein sind auf dem Weg zum literarisch gelungenen Beischlaf zwei Probleme. Erstens: die Schwierigkeit, die verbalen Klischees zu vermeiden (all das Kommen, das „Oh, oh“ und Kleiderzerreißen, all die Obstmetaphern), ohne dabei albern zu werden. Zweitens: etwas in Worten, also indirekt, zu schildern, was als Bild unmittelbar wirkt – weil es den stets zentralen voyeuristischen Reiz bedient (das umständliche Beschreiben des Ausziehens! die Bezeichnung von Geschlechtsteilen!).

    Das Ideal: die symbolische Aufladung

    Wie das überhaupt gelingen kann? Am nächsten kommt dem alten Ideal der symbolischen Aufladung eines Adalbert Stifter laut Rainer Moritz noch Daniel Kehlmann in „F“: „Beim ersten Mal war es merkwürdig und ein wenig anstrengend gewesen, beim zweiten Mal war es ihr bloß albern vorgekommen, aber beim dritten Mal, bei ihm zu Hause, während seine Eltern verreist waren und der Hund kläglich an der Tür kratzte, hatte sie plötzlich begriffen, warum die Menschen so viel Aufhebens davon machten.“

    Hübsch? Mag sein. Aber Elfriede Jelinek würde schallend darüber lachen. Oder darauf spucken. Nicht von ungefähr. Wie Stifter im 21. Jahrhundert? Dann doch eher wie dessen Zeitgenosse: der Marquis de Sade! Biedermeier oder Boudoir? Lesen Sie, wonach es Sie verlangt.

    Rainer Moritz: Wer hat den schlechtesten Sex? DVA, 240 S., 17,99 ¤

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