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150 Jahre: Eine Hommage an das Reclam-Heft

150 Jahre

Eine Hommage an das Reclam-Heft

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    Seit 150 Jahren liefert Reclams Universal-Bibliothek uns besten Lesestoff.
    Seit 150 Jahren liefert Reclams Universal-Bibliothek uns besten Lesestoff. Foto: Marcus Merk

    Wenn eine Reihe „Universal-Bibliothek“ genannt wird und der Band 6172 innen schon fast so vergilbt ist wie außen gelb, dann haben wir es mit einem Phänomen der Beständigkeit zu tun. Ein Reclam-Heft wirft man nicht weg. Weil diese Büchlein so klein sind und sich so gut stapeln lassen – und weil es praktisch keinen Platzgewinn im Regal schafft, wenn so ein gelbes Fliegengewichtchen rausfliegt. 6172 also, Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe. Steht außen auf dem Hefte. Das war Schullektüre. In welcher Klasse? Keine Ahnung. Worum es geht? Vergessen. Aber wie das anhebt!

    Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind.

    Liebe Twitterer, die ihr jetzt schon 280 Zeichen am Stück schreiben dürft: das war nicht die gesamte Novelle, sondern der erste Satz. Erstaunlich, wie viel Text in diese gelben Hefte passt – als Schüler hatte ich noch keine Lesebrille und konnte das trotzdem alles leicht entziffern. Herrlich.

    So liefen sie sich wieder hungrig und waren erfreut, von der Höhe eines schattenreichen Berges ein glänzendes Dorf vor sich zu sehen, wo sie Mittag halten wollten.

    So steht’s auf Seite 67 in Nummer 6172. Mittag halten! Oh gelbe Kostbarkeit. Wegwerfen? Niemals!

    Von Michael Schreiner

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    Ein nicht endender Lese-Albtraum in Gelb: elfte Klasse, Goethes „Iphigenie auf Tauris“, damals eine Schullektüre-Folter. Im Unterricht ging es um die Merkmale des klassischen Dramas, um Dramentheorie, um Höhepunkte, retardierende Momente und die Katharsis, für den lesenden Schüler ging es um das Überleben.

    War es möglich, an Langeweile zu sterben? Das Stück war nur 50 Seiten lang, aber diese 50 Reclam-Seiten fühlten sich so lang an wie der komplette Proust. Irgendwann wurde nicht mehr in Seiten, sondern in Versen gerechnet. Die nächsten zehn, dann eine Erholungspause, durchatmen, sich vergewissern, noch am Leben zu sein. Ein traumatisches Ereignis, das erst Jahre später an der Goethe-Universität therapiert wurde.

    Von Richard Mayr

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    Schöner Inhalt braucht schöne Verpackung, das verlangt einfach der Ästhet in uns. Was aber tun, wenn das Objekt des Verlangens bloß in einer sündteuren Leinen-Gesamtausgabe zu greifen ist? Man schaut nach bei Reclam.

    Da war sie dann auch zu haben, damals in den 80ern, Christoph Martin Wielands „Geschichte des Agathon“. Gelb natürlich, wie das meiste der „Universal-Bibliothek“, zweifingerdick (kein „Bändchen“, sondern fast 700 Seiten), und am Buchrücken diese kleinen schwarzen Preiscode-Quadrate (sieben Stück im vorliegenden Fall, wie viel waren das noch, zehn, zwölf Mark?). Die Leinen-Haptik, die man ja damals schon schätzte (Buch-Ästhet), sich aber nicht leisten konnte (Student), die war zumindest angedeutet durch ein gar nicht ungeschicktes Imitat auf dem Pappendeckel. Her damit also.

    Der handgroße Schinken leuchtete dann weiß Gott nicht nur wegen der Einbandfarbe. Die „Geschichte des Agathon“ war eines meiner tollsten Lektüreerlebnisse überhaupt. Wieland, nie zuvor gelesen – und nun, welch ein Ereignis dieses geistreiche, zum Schreien witzige, blendend geschriebene Lebensklugheitsbuch (streng genommen ein Bildungsroman, doch das tönt, ganz Wieland-untypisch, nach erhobenem Zeigefinger). Gepriesen also der Stuttgarter Gelbverlag, dass er den Titel im Programm führte, noch dazu mit Anmerkungen und Nachwort bestückt. Richtig was geboten fürs schmale Geld.

    „Agathon“ – noch heute in meinem Buchregal. Leuchtet in seinem Kanarienglanz, lockt mit den süßesten Lesefrüchten. Ich hol’ dich bald mal wieder raus, versprochen!

    Von Stefan Dosch

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    Auf den ersten Seiten sind noch die verzweifelten Versuche zu erkennen, irgendwelche Notizen an die nicht vorhandenen Ränder zu quetschen – maximal gespitzter Bleistift, Mikroskopschrift. Nutzlos. Bald schon sind nur noch Zeilen unterstrichen, dann ganze Absätze markiert, viele Ausrufe-, noch mehr Fragezeichen. Kurz danach: aufgegeben. Hunderte Seiten unberührt in leuchtend gelbem Umschlag. Es war der Versuch eines Umstiegs.

    Ich habe zuvor (bis auf Gerhart Hauptmanns genervt mit Albernheiten vollbekritzeltes „Rose Bernd“) die Reclam-Bändchen bearbeitet und geehrt. Vor allem zwei: Goethes „Faust“ und Goethes Gedichte. Aus dem ersten hab ich gerne laut gelesen (heimlich in meinem Zimmer natürlich); mit dem zweiten in der Tasche bin ich auf die Felder hinausspaziert (in der Ferne die Vorstadt), hab mich unter einen schönen Baum an einer Wegkreuzung gesetzt und gestaunt: „Selig, wer sich vor der Welt / Ohne Hass verschließt …“ Genau. Ja, ich war das Klischee des Jünglings – oder hab mich darin versucht, es zu sein? Für die Mädchen? Denn die Beine waren krumm und die Knie zerschunden vom Kicken, das Haar durch ideologischen Chic verfilzt, der Kopf oft wattig in den Wolken … Der Reclam-Goethe jedenfalls hatte hinreichend Platz für Notizen und Fantasie statt Verständnis gelassen …

    Beides fehlte beim Umstieg. Von Poesie auf Philosophie. Macht noch mehr Eindruck. Gleich mal Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“, für die Verhältnisse der gelben Bändchen: ein Ziegelstein. Und Granit für meinen romantisch weichen Schädel. Erst recht ohne Denkraum am Rand. Apriori. Häh?

    Von Wolfgang Schütz

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    Es muss in der siebten oder achten Klasse gewesen sein. Deutschunterricht, man las Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“. Der gelbe Einband der Reclam-Heftchen leuchtete grell im Licht der Neonröhren. Die Stimmung der pubertierenden Schüler hingegen war ähnlich trüb wie der graue Herbstvormittag draußen. Die Lehrerin, ob wohlüberlegt an meteorologischen Gegebenheiten orientiert oder lediglich strikt den Lehrplan abarbeitend, wollte wissen, wofür der dunkelgraue, mit schwarzem Samt ausgeschlagene Mantel des Protagonisten Wenzel stehe.

    Nun ließe sich hervorragend über eine Verbildlichung der melancholischen Einsamkeit der Hauptfigur philosophieren, die sich in der Farbe Schwarz widerspiegelt. Über die metaphorische Kritik an der Oberflächlichkeit der Gesellschaft, über ein Symbol für politische Verfolgung oder gar den Tod. Nicht jedoch im Kopfe einer Dreizehnjährigen. Und so meldet sich die Banknachbarin und sagt: „Ich schätze mal, das war halt die damalige Herbst-Winter-Kollektion.“

    Von Sandra Liermann

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    Mein liebstes Reclam-Heft ist blau – und es war in meiner Sturm-und-Drang-Phase eine Entdeckung. Politische Lyrik seit der deutschen Revolution 1848. Was für ein aufsässiger Ton, was für eine glühende Leidenschaft! Das traf genau mein Gerechtigkeitsempfinden in einer Zeit, als Gesellschaft durch sozialliberale Reformen noch gestaltbar erschien. Das unscheinbare blaue Heft verlieh mir eine wuchtige Sprache, die sich wohltuend unterschied vom abgeklärten Sozialkunde- und Geschichtsunterricht.

    Kein Vergleich auch mit früheren Reclamheften, damals noch in einem stumpfen Sandton, mit der üblichen Schullektüre. „Pole Poppenspäler“, „Maria Stuart“, „Bahnwärter Thiel“ usw. Sie zu lesen war für einen pubertierenden Jüngling eine Qual. Entsprechend zerfleddert sehen die Heftchen aus: der Umschlag verknittert, die Seiten an den Ecken zerfasert, der Buchrücken aufgebrochen. Und in Menge gelangweilte Bleistiftnotizen, die die Versuche des Deutschlehrers widerspiegeln, einem Acht- und Neuntklässler germanistische Literaturtheorie beizubringen.

    Inzwischen weckt das nostalgische Gefühle, während bei dem blauen Lyrikheft die alte Begeisterung aufleuchtet.

    Von Alois Knoller

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