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Interview: Wladimir Kaminer: Hinter jeder Familiengeschichte steckt eine Flucht

Interview

Wladimir Kaminer: Hinter jeder Familiengeschichte steckt eine Flucht

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    Mit „Russendisko“ gelang Wladimir Kaminer vor 18 Jahren der Durchbruch. Im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage seiner 24 Bücher und Hörbücher bei mehr als 3,7 Millionen.
    Mit „Russendisko“ gelang Wladimir Kaminer vor 18 Jahren der Durchbruch. Im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage seiner 24 Bücher und Hörbücher bei mehr als 3,7 Millionen. Foto: Jan Kopetzky

    In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie: „Wir sind alle Syrer“ – wie meinen Sie das?

    Wladimir Kaminer: Hinter jeder Familiengeschichte steckt zumindest zum Teil eine Flüchtlingsgeschichte. Schauen Sie meine Familie an: Meine Mutter musste 1941 aus Moskau flüchten, meine Schwiegereltern entkamen 1991 aus Grosny und ich selbst habe 1990 als Flüchtling in Ostberlin um humanitäres Asyl gebeten. Gegen das Schicksal der syrischen Kriegsflüchtlinge ist meine Geschichte natürlich ein Witz und ich hatte viel Glück. Aber ich kenne das Gefühl, in einem neuen Land von vorne zu beginnen. Manche der jungen Syrer erinnern mich an mich selbst. Die wollten einfach nur raus aus ihrer engen Welt und haben den Ehrgeiz, sich jetzt ganz neu auf die Probe zu stellen.

    Welches Bild hatten Sie von Deutschland, als Sie sich von der Sowjetunion aus auf den Weg in den Westen gemacht haben?

    Kaminer: Literatur und Musik waren die Köder, die uns aus der Heimat lockten. Die Kunst und die Kultur des Westens, so dachten wir, wollten nicht bessere Menschen aus uns machen oder uns erziehen wie im Sozialismus. Vielmehr erschienen sie uns als ein großes, freies, buntes Abenteuer. Da wollten wir hin. Der Westen war wie eine verbotene Frucht.

    Und wie erlebten Sie dann die Realität?

    Kaminer: Es war eine fremde, spießige, kleinbürgerliche Welt, die auf uns wartete. Sie hatte Angst vor Fremden und keine Lust auf Abenteuer. Sie war bei weitem nicht so spannend und interessant wie in den Büchern, die wir gelesen hatten. Wir sind aber trotzdem geblieben. Und es gab auch positive Seiten: Am Tag meiner Ankunft wurde Deutschland Fußball-Weltmeister – alle waren gut drauf und hatten Bierflaschen in der Hand. Also kaufte ich mir auch eine.

    Kaminer sieht eine unglaubliche Entwicklung in Deutschland

    Heute haben wieder viele Menschen Angst vor Fremden. Blicken Sie nun, 28 Jahre nach Ihrer Einwanderung, trotzdem positiver auf Deutschland?

    Kaminer: Auf jeden Fall! Deutschland hat sich unglaublich entwickelt, in jeder Hinsicht. Daran kann auch die Afd nichts ändern. Die Vereinigung mit den anderen europäischen Staaten in der EU hat sehr viel gebracht. Natürlich kann man die ökonomisch-politische Ausrichtung der EU kritisieren, aber kulturell ist Deutschland durch sie einen Riesenschritt nach vorne gekommen. Ich fühle mich hier sehr zu Hause, freue mich nach meinen Reisen immer aufs Zurückkommen und kann aus voller Überzeugung sagen: Deutschland ist mein Lieblingsland!

    In „Ausgerechnet Deutschland“ schreiben Sie über skurrile Situationen im Umgang mit Flüchtlingen. Hatten Sie keine Bedenken, ein so heikles Thema aufzugreifen?

    Kaminer: Nein, denn ich suche immer nach menschlichen Tragödien, um darüber lachen zu können. Das lustvolle Scheitern ist so eine Sache, die mir sehr gut gefällt. Und nachdem Tragödien vor allem dort entstehen, wo zwei Welten aufeinanderprallen, die einander überhaupt nicht kennen, ist die sogenannte Flüchtlingskrise genau mein Thema. Dazu kam auch noch, dass in dem brandenburgischen Dorf, in dem ich lebe, Flüchtlinge einquartiert wurden. Ich konnte sie und die Reaktionen auf ihre Ankunft aus nächster Nähe beobachten. Doch die Realität ist einfach zu skurril: kaum hatte ich das Buch geschrieben, waren die Flüchtlinge schon wieder weggeflüchtet.

    Ist das ein Scherz?

    Kaminer: Nein. Die Syrer aus unserem Dorf sind nach Cottbus gezogen, weil sie plötzlich dort ihre Zukunft zu sehen glaubten. Dann wollten sie wieder zurück zu uns. Ihr Familienoberhaupt bereute den Umzug und sagte, die Zukunft läge auf keinen Fall in Cottbus. Jetzt weiß aber keiner, ob das überhaupt geht mit dem Zurückgehen.

    Das Glück liegt also auch für Flüchtlinge immer anderswo.

    Kaminer: Ganz genau. Es bleibt eine der großen menschlichen Illusionen, dass man woanders hin muss, um glücklich zu sein. Es gibt immer mehr Flüchtlinge und Urlauber – alle wollen weg. Doch die Flüchtlinge von heute können die Urlauber von morgen sein, und umgekehrt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die ganze Welt vor sich selbst flüchtet. So lange wir aber nicht verstehen, dass die Erde rund ist und wir immer wieder an den gleichen Stellen rauskommen, mit den gleichen Problemen, macht das keinen Sinn. Es ist schmerzhaft und eine große Herausforderung zu erkennen, dass wir letztlich überall die gleichen Probleme haben, egal ob in Europa, Asien, Afrika oder Amerika.

    Für Kaminer ist jede Reise auch eine Flucht

    Die Deutschen gelten als Reiseweltmeister. Flüchten sie besonders gern vor der Realität?

    Kaminer: Ich glaube, das ist kein typisch deutsches Phänomen. In der Sowjetunion erzählte man sich früher eine Anekdote zu diesem Thema: Ein alter russischer Jude wanderte nach Israel aus, kehrte aber bald wieder in die Sowjetunion zurück. Das wiederholte sich noch mehrere Male, so dass der Grenzpolizist meinte: Sie müssen sich mal entscheiden, wo es Ihnen am besten gefällt! Woraufhin der Alte meinte: Das weiß ich doch: unterwegs!

    Sie haben mittlerweile 24 Bücher geschrieben. Wie fühlt es sich an, auf so viele Erfolge und Geschichten zurückzublicken?

    Kaminer: Meine Bücher sind wie die Geschichte meines Lebens, die immer weiter geschrieben wird. Das ist wie ein fließender Übergang, denn alle Bücher gehen ineinander über. Aufmerksame Leser werden die Verbindungen erkennen. Da ich auch viel über meine Kinder geschrieben habe, etwa über ihr Erwachsenwerden, fallen mir die Veränderungen nun besonders auf. Es ist wunderbar, auf all das zurückzublicken.

    Haben sich Familienmitglieder oder Freunde schon einmal beschwert, dass Sie über sie schreiben?

    Kaminer: Meistens freuen sie sich darüber. Es ist ja auch eine Art Freikarte in die Unsterblichkeit. Als Menschen stehen wir nur für eine bestimmte Zeitspanne im Leben, dann ist es aus. Die Figuren in meinen Geschichten überleben aber – das ist schon etwas besonderes.

    Wo finden Sie eigentlich die besten Geschichten?

    Kaminer: Leider bleibt das auch nach so vielen Büchern ein Geheimnis. Es ist wie beim Pilzesammeln: Man kann ein sehr guter und erfahrener Sammler sein, sich fleißig bücken, unter jeden Baum schauen, die besten Stellen im Wald kennen – aber ob man die besten Pilze wirklich findet, steht in den Sternen. Ich habe gelernt, wie man Geschichten im Alltag erkennt, und ich weiß wie man sie aufschreibt. Ob sie dann allerdings wie die Pilze nach der Zubereitung auch tatsächlich schmecken, das kann ich nicht vorhersehen. Sicher ist nur, dass es beim Geschichtensammeln immer wieder unerwartete Begegnungen gibt

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