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Digitalisierung: Müssen wir für unsere Sicherheit die Überwachung in Kauf nehmen?

Digitalisierung

Müssen wir für unsere Sicherheit die Überwachung in Kauf nehmen?

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    Die automatische Gesichtserkennung-Software am Bahnhof Südkreuz in Berlin identifiziert unter anderem Noch-Innenminister Thomas de Maizière.
    Die automatische Gesichtserkennung-Software am Bahnhof Südkreuz in Berlin identifiziert unter anderem Noch-Innenminister Thomas de Maizière. Foto: M. Schreiber, dpa

    Wie groß ist der Abstand noch? Zwischen dem, was uns in abschreckenden Beispielen als Zukunft im digitalisierten Überwachungsstaat vor Augen gehalten wird, und dem, was heute bereits umgesetzt oder zumindest umsetzbar ist?

    Hier nur zwei warnende Visionen. Erstens die aus Dave Eggers’ Weltbestseller„Der Circle“: Da wird möglichst alles für alle durch allgegenwärtige Kameras transparent; da bekommen Kinder Chips implantiert, um jederzeit ihren Aufenthaltsort und die mögliche Annäherung von Gefährdern überprüfen zu können; da wird ein stiller Alarm in Siedlungen gesendet, wenn Unbekannte eindringen. Zweitens der Hollywood-Hit „Minority Report“: Da ermöglicht ein (leider manipulierbares) System vorauszuberechnen, wann wer in der Zukunft eine Straftat begehen wird und diese durch Festnahme vorsorglich zu verhindern. Wilde Fiktionen?

    Tracking-Sender an den Schulranzen der Kinder

    Mal die aktuellen Entwicklungen in Deutschland genommen: Dass Schüler womöglich bald zu ihrem Schutz einen Sendern an ihren Schulranzen bekommen, wurde vor kurzem berichtet. Eltern rüsten die ersten Smartphones ihrer Kinder schon länger mit Tracking-Sendern auf, sodass sie immer deren Aufenthaltsort überprüfen können – und auch, wer sich in deren Nähe befindet. Eine öffentliche Kameraüberwachung inklusive Gesichtserkennung wird seit Monaten am Berliner Bahnhof Südkreuz getestet – das System kann aktuelle Aufnahmen innerhalb von 14 Sekunden mit den Daten von über einer Milliarde Menschen abgleichen.

    Aus Oberhausen im Ruhrgebiet, vom dortigen Institut für musterbasierte Prognosetechnik, stammt eine Software namens Precob, entwickelt zur „Pre-Crime-Ermittlung“. Soll heißen: Ein Programm liest aus den Statistiken Tatmuster im Bereich Massenkriminalität, also bei Diebstahl, Raub oder Betrug – und kann dann zielgenau Prognosen liefern, wo und wann das nächste Delikt aller Wahrscheinlichkeit begangen wird. Die Polizei in Zürich testet das Programm derzeit zur Verhinderung von Einbrüchen.

    Daten werden auf Vorrat gespeichert, Drohnen kreisen über uns

    Das Mosaik wäre beliebig zu erweitern. Etwa durch die „Tracking-Pixel“, die offenbar dafür verantwortlich sind, dass Tausende in der Türkei nach dem Putschversuch verhaftet wurden. Weil die staatlichen Sicherheitsdienste diese Restspuren auf deren Smartphone gefunden hatten, die sie als Beweis für die Nutzung einer verschlüsselten Messenger-App („ByLock“) werteten, mit der die Gülen-Bewegung kommunizieren soll. Dabei bleiben die nachverfolgbaren Pixel auch, wenn andere Dienste vom zentralen Server verwendet wurden, etwa solche zum Streamen von Musik. Da wäre ferner die fortschreitende totale digitale Kontrolle in China als Erziehung zum guten Bürger. Oder die Praxis der Vorratsdatenspeicherung hierzulande, das Kreisen von Überwachungsdrohnen. Aber das Bild ist auch ohne noch mehr Details bereits klar zu erkennen.

    Die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten in Zeiten der Digitalisierung werden immer weitreichender. Und nicht allein der mögliche Missbrauch ist es, der hier wie auch bei der Daten-Sammelwut der privatwirtschaftlichen Internetgiganten Fragen zu den Folgen aufwirft. Da nämlich handelt es sich im Prinzip um ein juristisches Abwägungsproblem: Was darf ein Unternehmen auf dem freien Markt mit seinen eigentlich ja freiwilligen Kunden alles ungestraft anstellen, wo diese doch wissen, dass ihre Geräte immer auch Sender von Informationen über sie selbst sind? Im staatlichen Gebrauch aber stellt sich die grundlegende Frage einer Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit, die den gesamten öffentlichen Raum betrifft, aber auch tief ins Persönliche hineinreicht.

    Es ist Normalität, dass Konzertbesucher vor Einlass gefilzt werden

    In Zeiten von Terrorgefahr und einer „erhöhten Bedrohungslage“ haben sich etwa die Besucher von Musikkonzerten innerhalb des vergangenen Jahres sehr schnell daran gewöhnen müssen, am Eingang immer komplett gefilzt zu werden, in der Mitnahme von Taschen auf Kleinstformate beschränkt zu sein und teils erhebliche Wartezeiten hinzunehmen. Was vor Jahren wohl sehr viele noch als Zumutung und Gängelung empfunden hätten, ist unversehens zur Normalität geworden – denn als Besucher solcher ja bereits zum Angriffsziel gewordenen Veranstaltungen herrscht nun offenbar Verständnis dafür, dass die Sicherheit vorgeht. Schließlich: Was hat man auch für eine Alternative, wenn das nun die Einlass-Voraussetzungen geworden sind? Bloß: Nicht hingehen, zu Hause bleiben.

    Für den öffentlichen Raum aber kann das freilich nicht gelten. Und wer sich dort nicht um die Freiheit sorgt, weil Überwachung ja nur die fürchten müssten, die etwas zu verbergen haben, sollte wohl nicht nur allgemein über seinen Freiheitsbegriff noch mal nachdenken, sondern (mal abgesehen von wohl nie ganz zu stopfenden Datensicherheitslücken) auch konkret über zweierlei.

    Welche Auswirkungen hätte eine Überwachung auf die Zivilgesellschaft?

    1. Es geht im Fall einer flächendeckenden Allzeit-Kontrolle nicht nur um unmittelbaren Schutz. Gefördert werden soll durch das bloße Bewusstsein der ständigen Anwesenheit des überwachenden Auges auch ein unauffälliges Verhalten der Bürger. Werden sich die Maßstäbe für jene Normalität nicht unweigerlich verschieben? Das heißt: Aus einem vermeintlich allgemeinen Schutzbedürfnis heraus wird allzu leicht ein fortschreitender Zwang zur Anpassung.

    2. Warum soll man einem Staat einfach vertrauen, dass er sich im Umgang mit all diesen Möglichkeiten aufs Notwendige beschränkt, wo dieser Staat doch selbst das Prinzip Kontrolle vor Vertrauen setzt? Wer könnte den Kontrolleur hier schon zuverlässig kontrollieren?

    Und vielleicht noch ein Drittes: Wie förderlich wirkt es für die Zivilgesellschaft, die ja auf gegenseitiges Verantwortungsgefühl und im Zweifelsfall unmittelbares Eingreifen setzt, wenn die Ordnungsmacht immer virtuell präsent ist?

    Der technische Fortschritt macht die Überwachung immer einfacher

    Natürlich wäre allen am liebsten, wenn sich keiner um Kindesentführungen oder Terror, Diebstähle oder Einbrüche sorgen müsste. Der Versuch, solche Gefahren zu verunmöglichen, birgt aber unweigerlich die Tendenz zur totalen Kontrolle. Der wehrhafte Staat gerät allzu leicht zum Überwachungsstaat. Die Mittel dazu werden die technischen Fortschritte immer leichter zu Verfügung stellen – auch dank eines gerade durch die Konjunktur allgemeiner Sorge und Verunsicherung florierenden Wirtschaftszweigs.

    Und wie sich schon ängstlich um ihre Kinder helikopternde Eltern der Möglichkeiten bedienen, wie auch bereits deutsche Gemeinden begonnen haben, die Hunde am Ort in einer DNA-Kartei zu erfassen, um bei unerlaubt hinterlassenen Häufchen den Halter durch einen Gen-Abgleich haftbar machen zu können – so zieht es den offenbar zur Hysterie neigenden Zeitgeist auch abseits totalitärer Systeme ins Zwanghafte. Die Digitalisierung macht’s möglich.

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