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Welt im Umbruch: Von 1919 nach 2019: Botschaften der Geschichte

Welt im Umbruch

Von 1919 nach 2019: Botschaften der Geschichte

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    19. Januar 1919: Frauen stehen erstmals in Deutschland in einer Schlange vor einem Wahllokal. Auch 100 Jahre danach ist die Geschlechtergleichheit noch Problemthema.
    19. Januar 1919: Frauen stehen erstmals in Deutschland in einer Schlange vor einem Wahllokal. Auch 100 Jahre danach ist die Geschlechtergleichheit noch Problemthema. Foto: Foto: AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung/dpa

    Wissen wir es heute wirklich besser? Damals, 1919, hatten sich die Frauen auch in Deutschland erstmals Teilhabe am politischen System erstritten, aktiv als Wählerinnen und dann auch passiv als Abgeordnete. Heute, 100 Jahre später, wird debattiert über Frauenquoten und „Me-Too“, muss Bayerns Ministerpräsident Söder noch immer versprechen, seine Partei würde offener für die Frauen. Damals, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stand Präsident Woodrow Wilson mit seinen USA als neue Weltmacht im Fokus und erhielt den Friedensnobelpreis, auch für seine Bemühungen, mit dem Völkerbund künftig die Geschicke der Welt kooperativ zu lösen. Doch, wie er damals daran scheiterte, dass sich diese USA nicht von anderen in ihre Belange mit hineinregieren lassen wollte, wendet sich der heutige US-Präsident mit exakt diesen Motiven gegen internationale Bündnisse.

    Und Hitler hielt seine erste Rede

    Und weiter. Damals spaltete der Konflikt zwischen den politischen Lagern immer schärfer die Gesellschaften. Bremen versucht eine Räterepublik wie Budapest. Aber eine Rosa Luxemburg, die eben noch mit Karl Liebknecht die Deutsche Kommunistische Partei gegründet und doch den Satz geprägt hatte „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ – die wurde von Reaktionären ermordet, wie Liebknecht, wie Kurt Eisner, erster Ministerpräsident des Freistaats Bayern. Und noch in diesem Jahr sammelte Benito Mussolini die Faschisten in Italien. Hielt – da selbst Käthe Kollwitz, damals erste Frau in der Akademie der Künste und leidenschaftliche Kriegsgegnerin, nach den Ergebnissen der Verhandlungen von Versailles am 8. Mai 1919 Schlimmes schwante: „Heut sind die Friedensbedingungen heraus. Furchtbar“– im Herbst bereits ein gewisser Adolf Hitler seine erste Rede als Mitglied der neuen, völkisch orientierten Deutschen Arbeiterpartei seine erste geifernde Rede im Münchner Hofbräuhaus.

    Und so wie in den Gesellschaften Unruhe herrscht, eskalieren auch in vielen Weltregionen jetzt erst recht Konflikte. Weil die neue Ordnung oftmals ethnische Grenzen zu ziehen versucht und damit eine neue Art von Abgrenzungskämpfen befeuert: zwischen Griechenland und der Türkei etwa, im irischen Bürgerkrieg auch, Grenzen, die noch 100 Jahre später virulent sind. Wie regelt man den Konflikt des Selbstbestimmungsrechts der Völker gegen den Minderheitenschutz?

    Und noch weiter. Marie Juchacz gründet die Arbeiterwohlfahrt und will, was die ebenfalls neue Internationale Arbeitsorganisation über die Ländergrenzen hinweg versucht: organisierte Teilhabe, Wohlfahrt und Gerechtigkeit. Aber auch in den Verhandlungen der zu Versailles alternativen Frauenfriedenskonferenz in Zürich traut man sich eine konsequent globale Perspektive der Forderungen nicht zu. Wie verantwortet man die Verteilung von Wohlstand international inmitten nationaler Umwälzungen und Konflikte? Auch 2019 bleibt das ein Problem. Schließlich, aber nicht zuletzt: Bereits 1919 eröffnet in Berlin ein Sex-Institut, das Aufklärung in Leibesdingen versucht, es wird bereits gegen die Strafbarkeit von Homosexualität angekämpft, während in der Weimarer Verfassung das Modell Vater-Mutter–Kind als Keimzelle zementiert wird; und mit Waldorf und Montessori starten alternative Bildungsstätten als Versuch, den modernen Menschen statt zum Funktionieren zuzurichten, zur Entfaltung zu begleiten. An diesem Umdenken laboriert auch das digitalisierte 21. Jahrhundert noch …

    Und so stößt, wer im Reigen der seit Florian Illies’ Erfolg mit „1913“ in Vielzahl erscheinenden Jahreszahlenbücher jene zu 1919 liest, von der Historikerin Birte Förster etwa und von der Kulturwissenschaftlerin Unda Hörner, zwar auch darauf: Coco Chanel findet in diesem Jahr ihren legendären Duft „No. 5“; eine besonders lange Sonnenfinsternis ermöglicht den ersten Nachweis für Albert Einsteins Relativitätstheorie, der Physiker wird Popstar.

    Auf dem Weg in „Weimarer Verhältnisse“?

    Vor allem aber stellt die Lektüre vor die Frage: Was ist daraus lernen, dass wir heute mit Konflikten so offenkundig in der Nachfolge von damals stehen? Dass dieselben Probleme immer wieder zurückkehren werden, wenn wir sie nicht lösen? Aber wie sollte eine krisenbeständige Lösung aussehen, wo die UN mit ihrer Menschenrechts-Charta doch heute kaum mehr Schlagkraft erreichen als ihr Vorgänger, der Völkerbund? Steuert etwa Deutschland wieder in „Weimarer Verhältnisse“? Gerade Historiker aber warnen vor solchen Vergleichen, solchen Kurzschlüssen ja stets: Geschichte wiederholt sich nicht. Wir müssen, um daraus zu lernen, bereits die damalige als ein zukunftsoffenes Geschehen begreifen und nicht dezidiert von den Folgen her erklären.

    Birte Förster zitiert den Soziologen Lepsius mit dem Befund der „Unvereinbarkeit der einzelnen politischen Milieus der Weimarer Republik, das Nicht-miteinander- kommunizieren-Können und -Wollen“. Sie meint: „Der entscheidende Unterschied zwischen unserer Gegenwart und 1919 samt den folgenden Jahren liegt allerdings darin, dass große Teile der Bevölkerung diese Spaltung derzeit ablehnen und für eine ungeteilte Gesellschaft und auch für die Europäische Union auf die Straße gehen.“ Zu lernen sei nun nicht nur national angesichts international wieder aufflammender Nationalismen: „Die Demokratie und die plurale Gesellschaft sind wie 1919 auch heute keine selbstverständliche Einrichtung.“

    Wer das für wohlfeil hält, sei an eine andere Parallele verwiesen. Damals bereits sorgten die neuen Möglichkeiten einer neuen globalen und direkten medialen Vernetzung für eine so unmittelbare Emotionalisierung der Debatten, dass die politische Lösung all dem kaum noch gerecht werden konnte. Heute erleben wir die Potenzierung dieses Problems. Wir können so viel mehr wissen – aber wissen wir es nun wirklich besser. Oder?

    Die Bücher

    - Birte Förster: 1919 – Ein Kontinent erfindet sich neu. Reclam, 234 S., 20 Euro

    - Unda Hörner: 1919 – Das Jahr der Frauen. Ebersbach&Simon, 256 S., 22 Euro

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