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Wandern: Hat das Wandern überhaupt noch eine Zukunft?

Wandern

Hat das Wandern überhaupt noch eine Zukunft?

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    Das Wandern in den Alpen (hier die Szene des Films „Der Hochtourist“ aus dem Jahr 1942) wurde ab 1850 modern.
    Das Wandern in den Alpen (hier die Szene des Films „Der Hochtourist“ aus dem Jahr 1942) wurde ab 1850 modern. Foto: imago stock&people

    Geht es um das Thema Wandern, dann drängt sich gern ein altes und sehr böses Klischee auf: Nämlich das von den lärmenden Seniorenkohorten, die auf ihren Volksmärschen gefährlich mit ihren Spazierstöcken in der Luft herumfuchteln, unterwegs in Gasthäusern grundsätzlich Jägerschnitzel bestellen und deren Mitglieder (selbst die Frauen) alle irgendwie so aussehen wie Carl Carstens oder Walter Scheel. Doch dieses Klischee ist dummes Zeug. Denn nicht zuletzt seit einem Forschungsbericht des Bundeswirtschaftsministeriums ist man wesentlich schlauer. Wandern ist eine Massenbewegung aller Altersgruppen. Beim 118. Deutschen Wandertag des Deutschen Wanderverbandes, der am Mittwoch im westfälischen Detmold beginnt, werden bis zu 30000 Menschen erwartet.

    240 Kalorien pro Stunde

    Seit 2002 gibt es übrigens eine belastbare Definition des Begriffes Wandern – und vor allem, wie er sich genau vom Spaziergang unterscheidet. So dauert eine Wanderung im Schnitt zwei Stunden und 39 Minuten, ein Spaziergang hingegen nur eine Stunde und 22 Minuten. Die Wanderung zieht sich je nach Gelände über durchschnittlich 13 Kilometer hin, der Spaziergänger bringt nur wenige Kilometer hinter sich. Wandern beginnt bei einer Fußmarschgeschwindigkeit von fünf bis sechs Kilometer (wer 60 Kilo wiegt, verbraucht dann pro Stunde 200 Kalorien, wer 80 Kilo wiegt, 240 Kalorien). Spaziergänger schlurfen eher so dahin. Wanderer planen ihren Ausflug, benutzen eigens eine Wanderausrüstung, suchen bewusst Anstrengung und Natur auf – dem Spaziergänger reichen Mantel und Regenschirm. Und groß geplant wird das Flanieren auch nicht. Auch vom Joggen gibt es eine Unterscheidung: Wandern ist demnach „eine Fortbewegung zu Fuß mit Schrittfolgen ohne Flugphase“. Laut Forschungsbericht ist der deutsche Wanderer durchschnittlich 47 Jahre alt, überdurchschnittlich gebildet, besser verdienend, reflektierter und konsumbereiter als Nichtwanderer. Und: 56 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren (etwa 40 Millionen Menschen) wandern – von „mindestens ein- bis zweimal pro Jahr“ bis zu „mehrmals im Monat“. Wer nun denkt, dass es Wanderer in erster Linie etwa in die Alpen zieht, täuscht sich: 40 Prozent der aktiven Wanderer bevorzugen die Mittelgebirge unseres Landes, nur neun Prozent das Hochgebirge.

    Langweilig? Anstrengend?

    Den Wanderern stehen in Deutschland übrigens 31 Millionen Menschen über 16 Jahren gegenüber, die ausdrücklich nie wandern. Hauptargumente gegen das Wandern sind: zu langweilig, zu anstrengend. Sie halten es wohl mit dem deutschen Dichter und Obermisanthropen Gottfried Benn, der einmal sagte: „Ich finde schon Gehen eine unnatürliche Bewegungsart, Tiere laufen, aber der Mensch sollte reiten oder fahren.“ Wie bereits aufgezeigt, ist er nicht mehrheitsfähig.

    Dass Wandern gesund ist, braucht wohl nicht eigens erläutert werden. Ein wichtiger Vorteil ist aber: Wandern kann auch von stark Übergewichtigen ausgeübt werden. Und laut einer Schweizer Studie ist es sicher: Auf 7143 Wunderstunden kommt ein Unfall. Wintersport ist 7,5-mal unfallgefährlicher, Fußball gar 18-mal.

    Als erster historisch dokumentierter Wanderer, der zweckfrei, also etwa ohne Pilgerhintergrund, unterwegs war, gilt der Italiener Francesco Petrarca, der 1336 den Mont Ventoux bestieg. Einfach nur, weil er es erleben wollte. Während im Mittelalter freiwilliges Reisen als Idiotie angesehen wurde (weil zu gefährlich), wurde es ab der Aufklärung zum Symbol der Emanzipation des Bürgertums vom Adel, der in Kutschen unterwegs war und die Vorhänge dabei zuzog.

    Der deutschen Wandervogelbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlossen sich viele junge Menschen an. Wandern galt als Protest gegen die Folgen der Moderne, die Ödnis der städtischen Fabrikwelten, die starre wilhelminische Gesellschaftsordnung. Eine ähnliche Funktion könnte das Wandern heute wieder einnehmen: als Protest gegen die Postmoderne, gegen permanente Erreichbarkeit, nervtötende Selbstdarstellung auf Instagram, gegen das inzwischen gängige Überflutetwerden durch einen nie endenden Strom an Informationen. Als ein Statement für bewusste Einfachheit, Nachdenklichkeit, Langsamkeit und echtes Gespräch mit Begleitern, für das man Stunden Zeit hat. Landschaftserfahrung durch zweckfreies Gehen – sie wird wohl auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts nicht an Attraktivität verlieren.

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