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Kölner Silvesternacht: Hilflos in Köln: Von unsichtbaren Verletzungen und tiefer Ohnmacht

Kölner Silvesternacht

Hilflos in Köln: Von unsichtbaren Verletzungen und tiefer Ohnmacht

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    Hilflos, ohnmächtig, gedemütigt: Die Silvesternacht in Köln hat Lisa Henske zum Opfer gemacht. „Die Bilder werden in meinem Kopf bleiben. Für immer“, sagt sie.
    Hilflos, ohnmächtig, gedemütigt: Die Silvesternacht in Köln hat Lisa Henske zum Opfer gemacht. „Die Bilder werden in meinem Kopf bleiben. Für immer“, sagt sie. Foto: Max Grönert

    Wenn Lisa Henske eines kann, dann das: vertrauen. Ein Geschenk, eine Fähigkeit, so groß, wie die Liste ihrer Notaufnahme-Besuche lang. Nasenprellung, Gehirnerschütterung, Verdacht auf Querschnittslähmung: All das hat Lisa, die eigentlich anders heißt, nicht davon abgehalten, sich immer und immer wieder in die Luft werfen zu lassen. Nicht davon abgehalten, dem langjährigen Partner in ihrer Tanzgruppe weiter zu vertrauen. Jedes Mal aufs Neue durfte Lars die Hände fest um ihre Hüften legen, um mit ihr Hebefiguren zu trainieren, die andere Menschen schon bei der Vorstellung schwindelig werden lassen.

    Was Lisa vor einem Jahr vor dem Kölner Dom passiert ist, hat ihr Vertrauen so erschüttert wie nichts davor in ihrem damals erst 19-jährigen Leben. Das Vertrauen in ihre eigene Stärke. In die Polizei. In den Staat. Eine Erfahrung, vor der sie nicht einmal Lars, ihr Tanzpartner und bester Freund, schützen konnte, obwohl er in jenen verhängnisvollen Minuten dicht bei ihr war. Lisa ist zierlich, 1,63 Meter klein und höchstens 50 Kilogramm schwer. Ihre langen, hellblonden Haare trägt sie beim Gespräch offen. So wie fast immer. „Blonde Haare, das kann auch ein Nachteil sein“, sagt sie. Zum Beispiel in der Silvesternacht.

    Silvester in Köln: Für Lisa sollte es die Nacht des Jahres werden

    Lisa ist eine von vielen Frauen, die in der Kölner Silvesternacht zum Opfer werden. Eingekesselt von Männerhorden, die sie demütigen, berauben und begrapschen. Manche werden sogar vergewaltigt. Die Polizei ist überfordert. Es dauert Tage, bis an die Öffentlichkeit dringt, was sich in jener Nacht abgespielt hat. Die Kölner Polizei berichtet an Neujahr noch von einer „ausgelassenen Stimmung“. Erst drei Tage später spricht Polizeipräsident Wolfgang Albers von „Straftaten völlig neuer Dimension“. Von Tätern, die „dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum“ stammen. Albers wird in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Und das Land steht unter Schock, als klar wird, dass auch Flüchtlinge unter den Tätern waren.

    Und es ist ja nicht nur Köln. In Deutschland werden in jener Silvesternacht laut Bundeskriminalamt mehr als 1200 Frauen Opfer von Sexualdelikten. Allein in Köln verzeichnet man 1222 Anzeigen, 513 davon wegen Sexualdelikten. Doch schuldig gesprochen werden gerade einmal 20 Männer, nur drei davon wegen sexueller Nötigung oder Beihilfe zur sexuellen Nötigung. Darunter ist auch der Mann, der Lisa in jener Nacht gegen 0.30 Uhr seinen Willen aufzwang, sie umklammerte, ihr mehrfach über die Wange leckte und sie küsste. Er wird verurteilt, zu einem Jahr auf Bewährung. Der 28-jährige Marokkaner sitzt derzeit in Abschiebehaft. Lisa ist Gerechtigkeit widerfahren – zumindest juristisch. Die meisten Opfer in dieser Kölner Nacht werden damit leben müssen, dass ihre Belästiger ungestraft davongekommen sind.

    Für Lisa sollte es die Nacht des Jahres werden. Lisa, die in einem Dorf in der Nähe von Siegen lebt, ist so vernarrt in Köln, dass sie nach ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement unbedingt herziehen will. Sie zückt das Smartphone, sucht ein älteres Foto raus: Es zeigt sie im Harlekin-Kostüm, strahlend, wie sie auf den Schultern von Lars steht, im Hintergrund der beleuchtete Dom. Der Dom: die Kulisse ihres schönsten Übermuts. Und ihrer schlimmsten Demütigung. Mit Lars und dessen Verlobter Kerstin mietet Lisa für die Silvesternacht ein Hostel-Zimmer in der Nähe vom Neumarkt in der Innenstadt. Gegen 20 Uhr schlendern sie über die Domplatte in die Kunstbar direkt neben dem Hauptbahnhof, trinken Kölsch, tanzen.

    Gegen halb zwölf geht es in den Hauptbahnhof zum Supermarkt. Sie kaufen Sekt, mit dem sie am Rheinufer um Mitternacht anstoßen wollen. Als sie in die Bahnhofsvorhalle zurückkehren, hat sich die Stimmung verändert. „Polizisten haben die Türen der Haupteingänge von außen zugehalten“, erinnert sich Lisa. Das Trio wird eingesogen in die aufgebrachte Menschenmenge, die drängelt und schiebt. Kerstin bekommt Platzangst. Ihre Freunde ziehen sie raus, laufen zum Nebenausgang, gelangen über Umwege – die Domtreppe wird von Polizisten abgeriegelt – auf die Domplatte.

    Der totale Kontrollverlust

    Es ist kurz vor Mitternacht. Für den Weg zum Rhein ist die Zeit zu knapp. Um Schlag zwölf stehen sie auf dem Roncalliplatz. Gefährlich dicht zischen die Raketen an ihnen vorbei. Nach einer halben Stunde wollen die drei nur noch zurück zur Kunstbar. Auf dem Weg dorthin, am Dom entlang, spürt Lisa immer mehr Hände an ihrem Po. Zufall, denkt sie erst angesichts des Gedränges. Kein Zufall, merkt sie zeitgleich mit ihrer Freundin. Trotzdem bleibt die Gruppe vor der Kirche stehen. „Ein Foto mit Dom, das musste doch sein.“ Ein junger Mann fragt in gebrochenem Deutsch, ob er ebenfalls ein Foto mit den Frauen machen dürfe. Sie willigen ein. Kurz darauf kommt ein zweiter Mann. Foto? Er legt seinen Arm um die Frauen, Lars fotografiert.

    Dann: totaler Kontrollverlust. Lisas Freundin wird abgedrängt, von mehreren Männern umringt, die ihr alle zwischen die Beine fassen. Lars wird ebenfalls umzingelt, unter anderem von dem Fremden, der als Erster nach einem Foto gefragt hatte. Lars soll „seine“ beiden Frauen für drei Stunden Sex verkaufen. „Sonst sei er tot, haben sie ihn bedroht. Wir waren wie eine Ware für diese Typen“, sagt Lisa. Sie steht auf einmal allein neben dem eben noch freundlichen zweiten Fremden, dessen Umarmung unversehens steinhart wird. Lisa wehrt sich. Vergeblich. „Ich hatte Angst und habe mich unendlich geekelt.“

    Ihre Freundin kann sich losreißen, packt Lisa an der Hand. Sie stürmen fort, laufen in die nahe Einkaufsstraße. Auch Lars kann sich befreien, das Trio flüchtet ins Hostel-Zimmer, stumm vor Entsetzen. Die Freunde beschließen irgendwann, noch in eine Bar zu gehen. Der Versuch, Normalität herzustellen, schlägt fehl. In der Bar sind sie gereizt, giften sich an.

    Als Lisa am Morgen des 1. Januar übermüdet und verstört nach Hause kommt, erzählt sie ihrer Mutter nicht, was passiert ist. Warum? Zögern. „Ich habe mich geschämt. Es war so persönlich.“ Es scheint vielen Frauen so gegangen zu sein. Denn es dauert Tage und Wochen, bis die Anzeigen sich häufen. Auf die Idee, bei der Polizei Anzeige zu erstatten, kommen Lisa und ihre Freunde mehrere Tage lang nicht. „Wir wussten gar nicht, dass man so etwas überhaupt anzeigen kann. Uns war ja nichts passiert, niemand war verletzt“, sagt Lisa. Heute weiß die in körperlichen Blessuren so erfahrene Tänzerin, dass sie in dieser Nacht erstmals die Bekanntschaft mit einer schweren unsichtbaren Verletzung gemacht hat. „Es hat abgefärbt“: Diese Worte wählt Lisa für ihr Trauma. „Die Bilder werden in meinem Kopf bleiben. Für immer.“

    Die Bilder jener Nacht vom Kölner Dom, von Rauchschwaden, den vielen Männern auf der Domplatte, sie haben das Land verändert, die Stimmung gedreht, den Ton rauer werden lassen, die Gräben in der Gesellschaft tiefer. „Nach Köln“, das markiert den Wendepunkt, spätestens als klar wird, dass Asylbewerber unter den Tätern sind: Merkels Flüchtlingspolitik wird infrage gestellt, das Vertrauen in den Staat schwindet, ebenso in Polizei und Medien, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, zu spät und zu unkritisch berichtet zu haben. Der Protest entlädt sich im Internet und bei den Wahlen – mit dem Erstarken der AfD.

    Nach Übergriffen: Monatelang konnte Lisa nicht darüber reden

    Sexuelle Übergriffe: Wie kann ich mich schützen?

    Schnell die Polizei informieren (110 wählen), dabei als erstes möglichst genau den Tatort melden.

    Nicht allein handeln, sondern Verbündete schaffen.

    Gezielt andere Leute ansprechen, zum Beispiel: „Sie im grauen Mantel, bitte helfen Sie mir!“

    Distanz zu den Tätern halten, so dass man nicht angegriffen werden kann.

    Den Täter siezen, damit anderen klar ist, dass man ihn nicht kennt.

    Klare Ansage an den oder die Täter, zum Beispiel: „Hören Sie auf! Wir haben die Polizei informiert.“

    Nicht provozieren.

    Wenn der Täter sich nähert: Klare Körpersprache, zum Beispiel Arm ausstrecken, „Stopp!“ rufen. Wenn das nicht funktioniert: beschwichtigen.

    Wenn der Täter einen bedroht, einen Schritt zu Seite gehen (dann kann man besser weglaufen), versuchen, den Täter zu verwirren, z. B. hüpfen und etwas Bizarres rufen wie „Wo kommen die weißen Mäuse her?“

    Lisa und ihre Freundin fassen erst Mut, als sie lesen, dass viele andere Frauen Anzeige erstattet haben. Eine Woche nach Silvester fahren sie wieder nach Köln, marschieren in eine Polizeiwache in der Innenstadt. Im nächsten halben Jahr wird Lisa häufiger zur Polizei fahren. Sie wird mehrfach zu den Vorgängen befragt, fühlt sich verhört, als müsste sie beweisen, dass sie sich die Geschichte nicht ausgedacht hat.

    Ihre Handy-Fotos vor dem Dom mit den beiden Tätern werden veröffentlicht. Einer von ihnen stellt sich freiwillig, den zweiten findet die Polizei. Am Prozesstag, im Juli, weint Lisa viel. „Die Männer haben mich während meiner Aussage die ganze Zeit angestarrt. Ich hatte fast einen Blackout deswegen.“ Monatelang konnte Lisa nicht darüber reden, was ihr passiert ist. Nicht mit ihrer Mutter. Nicht mit Freunden. Im Gerichtssaal muss sie darüber reden. Und mittlerweile kann sie es auch.

    Bei anderen betroffenen Frauen ist es umgekehrt. Sie haben in den Wochen nach der Silvesternacht geredet, auch mit Reportern: über ihre Panik-Attacken, ihre Ohnmachts-Gefühle, ihren Zorn. Aber mittlerweile können und wollen sie nicht mehr reden. Weil die inneren Bilder so kurz vor Silvester mit aller Macht zurückkehren und überwältigen. Was alle befragten Frauen gemeinsam haben: die Angst vor Menschenmengen, die Abneigung gegen Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“, die Wut über eine zu empathische Aufnahme zu vieler Flüchtlinge. Bei mehreren: Ärger über Justiz und Polizei, die sie als ohnmächtig und untätig empfunden haben. Und der Vorsatz, am heutigen Silvesterabend lieber zu Hause zu bleiben.

    Lisa wollte das erst nicht. Sie wollte die 110 Kilometer nach Köln fahren. Noch einmal feiern, nah am Dom, ganz bewusst. Mit Lars. „Um zu zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern und uns nicht Silvester versauen lassen.“ Jetzt werden sie aber doch bei ihr zu Hause feiern. Ein paar Freunde werden kommen. Nur Menschen, denen Lisa Henske vertraut. (mit dpa)

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