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Unsichtbarer Feind: Stalking-Opfer: Eine Betroffene erzählt von ihren Horror-Erlebnissen

Unsichtbarer Feind

Stalking-Opfer: Eine Betroffene erzählt von ihren Horror-Erlebnissen

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    Stalking-Opfer: Eine Betroffene erzählt von ihren Horror-Erlebnissen
    Stalking-Opfer: Eine Betroffene erzählt von ihren Horror-Erlebnissen

    Jedes Mal, wenn Julia aus dem Haus geht, hat sie diese Gedanken, jedes einzelne Mal: Vielleicht ist er da irgendwo unter den Passanten. Der mit der Mütze. Oder der mit dem Dreitagebart. Hat der im Auto nicht beim Vorbeifahren seltsam geguckt? Dann schämt sie sich manchmal, dass sie schon wieder an ihn denkt, ihm Platz in ihrem Alltag gibt. Meistens ist sie aber wütend, dass er überhaupt da ist und sich gegen ihren Willen und so penetrant in ihr Leben einmischt. Sie möchte es herausschreien: Lass mich in Ruhe! Aber dann hielten die Passanten nur sie für verrückt. Sie fühlt sich manchmal selbst schon paranoid. Übertreibe ich? Sind anonyme Nachrichten und nächtliche Anrufe nicht auszuhalten? Aber warum muss ich das ertragen? Warum macht er das? Wann hört das auf? Die Fragen machen Julia schier verrückt. Das Schlimmste für die junge Frau: Sie findet keine Antworten. Sie weiß nicht, wer er ist. Der Mann, der sie belästigt, sie gegen ihren Willen kontaktiert, der sich anpirscht, ihr das Leben zur Hölle macht, den sie einfach nicht mehr loswird.

    Stalking: Begriff stammt aus der Jägersprache

    Julia heißt in Wirklichkeit anders. Weil sie mit diesem Artikel ihren Verfolger nicht noch provozieren will, möchte sie unerkannt bleiben. Kein Wohnort, kein Beruf, kein Alter. Weil sie aber weiß, dass es vielen so geht wie ihr und dass Stalking häufig verharmlost wird, will sie reden. Erzählen, wie Opfer sich fühlen. Erzählen vom Psychoterror, von der Angst, von der Ohnmacht. Und was es heißt, plötzlich mit einem Stalker leben zu müssen. Das beabsichtigte und wiederholte Verfolgen und Belästigen eines Menschen hat seit den 1980er Jahren einen Namen: Stalking. Der Begriff stammt aus der Jägersprache und leitet sich von dem englischen Wort für "anpirschen" ab. Julia hatte nicht an Stalking gedacht, als sie früher Michael Jacksons Lied "Billie Jean" hörte. Der Popstar hatte Erfahrungen mit einem aufdringlichen weiblichen Fan gehabt und diese 1982 in dem Welthit verarbeitet. Auch abseits des Starrummels ist Stalking inzwischen ein Massenphänomen. Studien besagen: Zwölf Prozent der deutschen Bevölkerung sind einmal in ihrem Leben von Stalking betroffen. Es trifft also jeden achten Bürger. Die meisten Stalker sind Männer, die meisten Opfer Frauen - EU-weit werden laut einer Umfrage derzeit neun Millionen Frauen gestalkt. In acht von zehn Fällen sind Stalker Ex-Partner. Weil es heutzutage mehr Trennungen gebe, gebe es auch mehr anschließende Belästigungen, meint Justine Glaz-Ocik, Psychologin am Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. Doch es gibt auch Fremdstalker oder Bekanntenstalker - so wie höchstwahrscheinlich in Julias Fall. Julia hatte schon von Stalking gehört, sogar in ihrem Bekanntenkreis, das aber nicht so ernst genommen. Was sind schon ein paar Anrufe und SMS? Heute weiß sie: eine riesige Belastung. Besonders erschreckend findet sie es, wie schnell das gehe. Und dass man sich vor einem Stalker nicht schützen kann. "Es kann jedem passieren, man muss nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein und die falsche Person treffen", sagt auch Justine Glaz-Ocik. Durch die moderne Kommunikation hätten die Stalker neue Kanäle, ihre Opfer zu finden und auch zu belästigen. Handy, Internet - "es ist leichter geworden zu stalken", sagt die Wissenschaftlerin.

    Nicht jeder hat das Zeug zum Stalker

    Das müssen Sie über Stalking wissen

    Unter Stalking versteht man das wiederholte Verfolgen oder Belästigen eines anderen Menschen.

    Der Begriff ist vom englischen "to stalk" abgeleitet. Das bedeutet jagen, heranpirschen, verfolgen.

    Sehr häufig stehen oder standen Täter und Opfer beim Stalking in einer Beziehung, waren etwa einmal zusammen, hatten zusammen gearbeitet oder kennen sich aus der Nachbarschaft.

    Auch abgewiesene Verehrer stecken oft hinter Stalking-Attacken.

    Stalking äußert sich zum Beispiel in (nächtlichem) Telefonterror, in Schikanen, Verleumdungen, Auflauern an der Wohnung oder am Arbeitsplatz oder Bestellungen unter falschem Namen.

    In extremen Fällen wurden Stalking-Opfer von Tätern auch verletzt oder sogar getötet.

    Etwa 90 Prozent der Opfer beim Stalking sind Frauen.

    Stalking ist in Deutschland eine Straftat. Auf die sogenannte „Nachstellung“ (§ 238 StGB) steht Freiheitsstrafe bis zu drei Jahre.

    Im Jahr 2011 verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik 25.038 Fälle von Nachstellung.

    Stalking-Opfer sollten sich möglichst frühzeitig an die Polizei wenden. Diese kann zum Beispiel Kontaktverbote oder einen Platzverweis aussprechen.

    Opfer sollten unbedingt und möglichst frühzeitig auch ihre Bekannten und Verwandten über die Attacken informieren.

    Auch anwaltliche Beratung ist sinnvoll, etwa, um gegen den Täter zivilrechtlich vorzugehen.

    Allerdings hat nicht jeder das Zeug zum Stalker, meint Justine Glaz-Ocik, die zusammen mit ihrem Kollegen Jens Hoffmann den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Täter herausgefunden hat: "Das sind Personen, die nicht gut mit Zurückweisungen umgehen können, eine hohe innere Fixierung und ein niedriges Selbstwertgefühl haben." Ein Stalker beißt sich fest, kann nicht loslassen. Die Motive sind unterschiedlich: Liebeswahn, Hass, Rache, Kontrolle, Macht. Stalker sehen sich häufig selber als Opfer und fühlen sich missverstanden, hat Justine Glaz-Ocik herausgefunden. Und: "Wenn man rechtzeitig und relativ zügig eine Grenze zieht, hilft das meistens enorm." Julia hat schon verdrängt, wann es mit den anonymen Anrufen auf dem Handy losging. Plötzlich läutete nachts das Telefon und jemand stöhnte in den Hörer. Ein blöder Scherz, dachte sie sich und legte auf. Doch die Anrufe häuften sich. Dann kamen anonyme SMS hinzu. Aufforderungen zu Treffen. Julia ignorierte sie. Dem Stalker war das egal. Es ging weiter. Nächste Stufe: "Du bist ja schon zu Hause", schrieb er eines Abends. Da saß Julia auf ihrem Sofa, hatte Licht brennen und schlagartig ein mulmiges Gefühl. Er weiß, wo ich wohne. Oder blufft er nur? Sie schrieb ihm unmissverständlich, dass er sie in Ruhe lassen solle. Doch das war ihm egal. Er machte weiter. Sie würde am Liebsten ihre Handynummer ändern, doch das geht aus beruflichen Gründen nicht. Julia macht nun nachts das Handy aus - ihr ungutes Gefühl lässt sich damit nicht abschalten. Ein Patentrezept gegen Stalking gibt es nicht, sagen Experten - so verschieden die Stalker, so unterschiedlich ihre Methoden, so unterschiedlich die Abwehrstrategien. Die gängigen Tipps von Polizei und Opferschutzeinrichtungen lauten: 1. Unmissverständlich sagen, dass man keinen Kontakt möchte, konsequent bleiben, weder antworten noch treffen. 2. Das Stalkerverhalten dokumentieren, alle Daten sammeln. 3. Das Umfeld über den Stalking-Vorfall informieren. 4. Unterstützung suchen, sich von Fachleuten individuell beraten lassen. 5. Handynummer wechseln, keine persönlichen Daten in den Hausmüll geben. 6. Anzeige erstatten. In den meisten Fällen hört die Belästigung danach auf, sagt die Polizei. Doch mit der Anzeige ist das so eine Sache.

    25.000 Fälle von Stalking in Deutschland angezeigt

    Auch für Julia. Wenn die Wut auf "ihn" nicht stark genug ist, kommt die Angst durch: Was, wenn er einen Schritt weitergeht? Was, wenn er mich nicht mehr nur über das Telefon belästigt oder mir Nachrichten ans Auto klemmt? Wenn er gar vor meiner Tür auftaucht oder aggressiv wird? So, wie es immer wieder in der Zeitung steht, wenn Männer Frauen angegriffen haben, denen sie zuvor nachgestellt, die sie belästigt hatten. Julia hat schon darüber nachgedacht, zur Polizei zu gehen - und es dann doch wieder verworfen. Selbst wenn die Beamten es schaffen, den Stalker zu identifizieren, was dann? Hört es auf? Würden eine Anzeige oder ein Kontaktverbot etwas bringen? Oder macht es alles nur schlimmer? Die Gedanken hat Julia zigmal durchgespielt. Sie kennt Geschichten von Stalking-Opfern, viel schlimmer als ihre, die verzweifelt versuchten, sich gegen die Belästigungen zu wehren - und denen die Justiz nicht groß helfen konnte. Zum Beispiel Mary Scherpe. Die Mode-Bloggerin aus Berlin muss seit Juni 2012 mit einem hartnäckigen Stalker leben. Er verunglimpft sie im Internet, beschimpft sie via Twitter und Facebook, schickt ihr dauernd Pakete nach Hause, ruft sie nachts an, belästigt sie auf allen Kanälen, alles anonym. Schnell vermutete Mary Scherpe ihren Ex-Freund hinter dem Psychoterror und versuchte sich zu wehren. Sie zeigte den Mann an, dokumentierte alle Attacken - erfolglos. "Die lediglich als Belästigungen zu wertenden Kontaktaufnahmen des Beschuldigten genügen den Anforderungen nicht", hieß es am Ende jedes Mal. Mary Scherpe war entsetzt. Aus der Not heraus wurde sie zu einer Rechtsexpertin in Sachen Stalking. Sie besorgte sich Zahlen und stellte fest: Sie ist nicht allein. 2012 wurden rund 25 000 Fälle von Stalking in Deutschland angezeigt, in 21 000 Fällen wurde ein Täter ermittelt - aber die Verurteilungsquote liegt bei rund zwei Prozent. Daran ist nach Scherpes Ansicht der sogenannte Stalking-Paragraf schuld, eigentlich dazu eingeführt, Opfer zu schützen und Täter zu bestrafen oder gar einzusperren. Eine Formulierung ist die große Hürde: Paragraf 238 greift erst, wenn der Täter die Lebensgestaltung des Opfers "schwerwiegend beeinträchtigt". Das heißt: Der Täter muss sich erst erfolgreich und massiv in das Leben seines Opfers eingemischt haben, ehe er über den Paragrafen gestoppt werden kann. "Scherwiegend beeinträchtigt" heißt für Gerichte Wohnort-, Wohnungs- oder Jobwechsel. Dass sie jeden Tag per Telefon belästigt wird, ständig Pakete zugestellt bekommt, ihre Arbeit via Internet torpediert wird, soll keine schwerwiegende Beeinträchtigung, soll zumutbar sein? Mary Scherpe wollte das so nicht akzeptieren. Damit auch Taten, die zu einer schwerwiegenden Beeinflussung der Lebensgestaltung führen können, strafbar sind, startete sie eine Internetpetition unter www.change.org/stalkingparagraf. In nur zwei Wochen: 40 000 Unterschriften. Und viele Stalking-Opfer schrieben ihr. Auch im Koalitionsvertrag war die Änderung des Stalking-Paragrafen ein Thema und wird laut Justizminister Heiko Maas derzeit von der Bundesregierung geprüft.

    Betroffene veröffentlicht Vorfälle im Internet

    Doch Mary Scherpe will sich nicht auf den Gesetzgeber verlassen oder darauf, dass ihr Stalker einen Fehler macht. Sie wehrt sich mit einer Methode, mit der "er" wohl nicht gerechnet hat: Sie veröffentlicht all seine Taten und Belästigungen im Internet. Plötzlich hat er wohl mehr Aufmerksamkeit, als ihm lieb war. Sein Wahnsinn ist nun auf eigentlichjedentag.tumblr.com für alle zu sehen. Inzwischen hat sie auch ein Buch über ihr Leben mit einem Stalker geschrieben. Seit "An jedem einzelnen Tag" (Lübbe Verlag) erschienen ist, hat sie Ruhe. "Aber ich kann nicht sagen, ob es jetzt vorbei ist, weil ich es nie genau wissen kann", sagt Mary Scherpe. Sie weiß, nicht jeder hat den Mut und die Kraft, sich mit Öffentlichkeit zu wehren. Dabei wäre es gut, weil so sichtbar werde, welch Riesenproblem Stalking ist. Zudem: "Solange man nicht darüber spricht, schützt man den Täter." Und Reden helfe den Opfern. "Es gibt Dinge, die man teilen muss, weil sie so schlimm sind, dass man sie nicht aushalten kann", sagt Scherpe. Als sie von Julias Fall hört, sprudeln die Tipps aus ihr heraus: Auf jeden Fall zur Polizei gehen, sich beraten lassen, nicht darauf hoffen, dass es von alleine aufhört - vor allem: "Nicht im Sinne des Stalkers denken, das funktioniert in den meisten Fällen nicht und man leidet nur noch mehr darunter." Sollte Julia sich entscheiden, die Polizei einzuschalten, wird sie wahrscheinlich eine freundliche Frauenstimme hören. Sie gehört Sabine Rochel, der Opferschutzbeauftragten des Polizeipräsidiums Schwaben Nord. Bei ihr wurden vergangenes Jahr 122 Stalking-Fälle angezeigt. Rochel ist sich sicher: Die Dunkelziffer ist wesentlich höher.

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