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Unglück in Genua: Warum der Einsturz der Autobahnbrücke kein Zufall ist

Unglück in Genua

Warum der Einsturz der Autobahnbrücke kein Zufall ist

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    Und auf einmal führt die Autobahn 40 Meter in die Tiefe. Lastwagenfahrer Luigi ist mit seinem Fahrzeug gerade noch zum Stehen gekommen.
    Und auf einmal führt die Autobahn 40 Meter in die Tiefe. Lastwagenfahrer Luigi ist mit seinem Fahrzeug gerade noch zum Stehen gekommen. Foto: Zheng Huansong/Xinhua, dpa

    Der blaue Lkw mit der grünen Plane steht immer noch da. Hoch oben thront er auf den Resten der Brücke. Wenige Meter vor ihm tut sich der Abgrund mit den in sich zusammengebrochenen Betontrümmern auf. Ein trauriges Fanal für das Unvorstellbare. Luigi saß am Steuer, als die Brücke vor ihm unter einer riesigen Staubwolke zusammenbrach. „Ein Auto überholte mich, also stieg ich auf die Bremse“, wird der 37-Jährige nach dem Unglück einer italienischen Redaktion erzählen. Wobei Unglück die Sache nicht unbedingt trifft. Dass diese Autobahnbrücke in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus, ist kaum als dummer Zufall zu bezeichnen.

    Luigi bremste. Dann sah er, wie vor ihm dutzende Fahrzeuge in die Tiefe stürzten. Das hat er auch der Polizei erzählt. Als er sah, wie vor ihm der Boden verschwand, legte er in Panik den Rückwärtsgang ein, stieß dann die Fahrertür auf und rannte gegen die Fahrtrichtung zurück. Der Motor lief noch. Geldbeutel, Ausweise und Schlüssel liegen immer noch im Laster, dessen Bilder nun die halbe Welt kennt.

    „Ich will mich nicht erinnern“, soll Luigi noch erzählt haben. „Es schmerzt zu sehr.“ Auf einem Video, das Augenzeugen aufgenommen haben, ist der Einsturz der Brücke am Dienstagmittag zu sehen. Man sieht dunkle Wolken, weißen Staub und einstürzende Betonpfeiler. „Oh Gott, oh Gott“, ruft ein Augenzeuge bei diesem Anblick voller Panik.

    In Italien ist das Unvorstellbare passiert. Am 14. August, dem Tag, an dem sich das halbe Land in Bewegung setzt, um 24 Stunden später im Kreis der Familie Ferragosto zu feiern, den „Festtag des Augustus“, stürzt eine extrem befahrene Autobahnbrücke bei Genua ein. Auch viele Urlauber aus Deutschland und Österreich sind in diesen Tagen hier unterwegs. Das beliebte Feriengebiet Cinque Terre ist nicht weit entfernt, andere nehmen die A10 für die Fahrt an die toskanische Küste oder in Richtung Frankreich. Wer schon einmal in Ligurien war, kennt das hoch gelegene Polcevera-Viadukt in Genua zwischen Flughafen und Hafen. Kaum zu glauben, dass dessen Fahrbahnen nun brüsk in der Luft enden.

    Die Fahrzeuge purzelten wie Spielzeug in die Tiefe

    Mehr als 30 Autos und drei Lastwagen purzelten wie Spielzeug 40 Meter in die Tiefe und begruben die Menschen unter sich. Die Trümmer stürzten auf Bahngleise und kaum besiedeltes Industriegebiet, sonst hätte es wohl noch mehr Opfer gegeben. Elf Wohnblocks in unmittelbarer Nähe wurden evakuiert, 632 Menschen haben nun kein Dach mehr über dem Kopf.

    Bislang sind 42 Tote bestätigt, darunter drei Kinder im Alter von acht, zwölf und 13 Jahren, außerdem vier Franzosen und zwei Rumänen. Ob Deutsche unter den Opfern sind, ist zunächst unklar. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin heißt es, das Generalkonsulat Mailand stehe in engem Kontakt mit den italienischen Behörden. Fünf Leichen können noch nicht identifiziert werden. Mehrere Menschen gelten als vermisst. Die Zahl der Toten wird weiter steigen, sagt Regionalpräsident Giovanni Toti. Die Feuerwehr hat Suchhunde im Einsatz, Hubschrauber bringen Verletzte und Tote fort. Am Nachmittag müssen die Bergungsarbeiten unterbrochen werden, weil weitere Einstürze drohen.

    Rettungskräfte bergen einen Toten aus den Trümmern. Der Regionalpräsident Liguriens sagt, die Zahl der Toten werde weiter steigen.
    Rettungskräfte bergen einen Toten aus den Trümmern. Der Regionalpräsident Liguriens sagt, die Zahl der Toten werde weiter steigen. Foto: Luca Zennaro/Ansa, dpa

    Es grenzt an ein Wunder, dass die Retter aus den Trümmern auch Überlebende ziehen. Davide Capello etwa, ein früherer Fußball-Profi. „Ich erinnere mich an die Straße, die nach unten stürzte. Und ich hatte das Glück, dass ich, ich weiß auch nicht wo, gelandet bin“, erzählt der 33-Jährige Reportern im Krankenhaus. Es sei wie eine Szene aus einem apokalyptischen Film gewesen, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Ansa. Capello spielte als Torhüter in der zweiten Liga beim sardischen Verein Cagliari Calcio, der heute erstklassig ist. Mittlerweile arbeitet er für die Feuerwehr. Dann sagt er noch, dass er aus eigener Kraft aus seinem Wagen kletterte und eigenhändig nicht nur die Rettungskräfte, sondern auch seine Familie verständigt habe. „Es war schockierend.“

    „Nein“, sagt Oberstaatsanwalt Francesco Cozzi sehr bestimmt auf die Frage von Journalisten, ob es sich bei dem Einsturz um ein zufälliges, fatales Schicksalsereignis, eine „fatalità“, handelt. Seine Behörde ermittelt bereits gegen unbekannt. Denn es scheint klar zu sein, dass menschliche Nachlässigkeit die 1967 eingeweihte und über 1100 Meter lange Morandi-Brücke zum Einsturz gebracht hat. Ein Unwetter war am Dienstag über Genua hinweggezogen. An der Brücke fanden gerade Bauarbeiten statt, vielleicht, so mutmaßen manche, riss einer der Stahlträger. Augenzeugen berichten von einem Blitz, der im Moment des Einsturzes zu sehen gewesen sei.

    Fest steht: Der Einsturz der Morandi-Brücke ist auch ein Symbol für die Nachlässigkeit Italiens mit sich selbst. Denn wer das Land in diesen Jahren erlebt, wundert sich kaum noch über derartige Ereignisse. Genua und Ligurien waren in den vergangenen Jahren Schauplatz verheerender Überschwemmungen, die der Natur angelastet werden, aber durch Klimawandel und Bauwut auch menschengemacht sind. Ähnlich ist es bei den häufigen Erdbeben im Land. Man schlägt erst die Hände über dem Kopf zusammen, dann werden regelmäßig die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen und baulichen Versäumnisse aufgelistet. Vor sechs Jahren steuerte Kapitän Francesco Schettino ein Kreuzfahrtschiff gegen die Felsen der Insel Giglio – auch das war sinnbildlich.

    Noch viel mehr Brücken gelten als einsturzgefährdet

    Die Hauptstadt Rom versinkt seit Jahren im Müll, Neapel erstickt in brutaler Kriminalität, seit einiger Zeit müssen Migranten als Sündenböcke der in Wahrheit extrem über sich selbst frustrierten Italiener herhalten. In Rom gehen wöchentlich Busse in Flammen auf, es gibt eine Autobahnbrücke auf dem Weg zum Flughafen, deren Stabilität nicht gewährleistet sein soll, auf der sich aber täglich der Verkehr staut. Brücken in Kalabrien und Sizilien gelten als einsturzgefährdet.

    Und doch ist dieses reiche Land eines der beliebtesten Ferienziele überhaupt, besticht immer noch durch Schönheit, Leichtigkeit, Kunst, Genie und Anmut. Es ist das italienische Paradox. Im Land Michelangelos und Leonardo Da Vincis brechen die Brücken, Sinnbilder großer Ingenieurskunst, in sich zusammen.

    Viele von ihnen sind völlig überlastet. In den letzten Jahren stürzten Viadukte bei Ancona, Agrigent und Fossano ein. Es starben, so zynisch es klingt, „nur“ wenige Menschen – deshalb gab es kaum Schlagzeilen. Die Situation in Genua ist besonders prekär. Die zwischen Wasser und Hügeln gebaute Stadt ist dem enormen Verkehrsaufkommen längst nicht mehr gewachsen. Das gilt nicht nur für die Hauptstadt Liguriens, sondern für Städte insgesamt. Italien ist mit seinen 60 Pkw pro 100 Einwohner ein Extrem.

    5000 Lastwagen sollen die Morandi-Brücke täglich überquert haben, mehr als 25 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, das ist viermal mehr als vor 30 Jahren. Allein seit Jahresbeginn hat der Verkehr auf der betroffenen Strecke um 18 Prozent zugenommen. Seit Jahren wird über die Anfälligkeit der mehr als 50 Jahre alten Brücke diskutiert, manche sahen die Tragödie kommen.

    Dabei bleibt die Frage, ob nur die Brücken stabiler werden müssen oder vielleicht auch die Menschen ihr Konzept von Mobilität überdenken sollten. Die Anstrengungen der Straßenbaubehörde Anas genügen ganz offensichtlich nicht. Elf Milliarden Euro will Anas zwischen 2016 und 2020 in die Instandhaltung der italienischen Autobahnen investieren, davon 350 Millionen Euro in Brücken und Tunnels. Das war nicht genug.

    Nun beginnt die Jagd nach den Schuldigen. Die Verantwortlichen der Autobahngesellschaft Autostrade d’Italia stehen ganz oben auf der öffentlichen Abschussliste. Arbeitsminister und Vizepremier Luigi Di Maio bringt Geldstrafen für die Betreiber in Höhe von 150 Millionen Euro und die Entlassung der Manager ins Spiel, noch bevor die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufnimmt. Für Verkehrsminister Andrea Toninelli steht schon fest, dass mangelnde Instandhaltung die Ursache gewesen sei. Die Autobahngesellschaft wehrt sich. Die Brücke sei alle drei Monate kontrolliert worden, teilt sie mit.

    Der Innenminister geht auf die EU los

    Der Staub unter der Brücke ist noch nicht gesackt, da wartet der zackige und von Umfragen begünstigte Innenminister Matteo Salvini von der rechtsnationalen Lega bereits in Manier eines Sheriffs auf. „Ich will Vor- und Nachnamen der Verantwortlichen“, poltert er. Und dass die Europäische Union mit ihrem Spardiktat gegenüber Italien in gewisser Weise auch eine Mitschuld trage. „Immer muss man um Erlaubnis fragen, Geld auszugeben“, schimpft er weiter. Davon aber dürfe nicht die Sicherheit auf den Straßen, bei der Arbeit und in den Schulen, „in denen immer wieder mal die Decken einstürzen“, abhängen.

    Auch dieser Lastwagen ist 40 Meter in die Tiefe gestürzt. Er landete mit den tonnenschweren Betonbrocken auf den Bahngleisen.
    Auch dieser Lastwagen ist 40 Meter in die Tiefe gestürzt. Er landete mit den tonnenschweren Betonbrocken auf den Bahngleisen. Foto: Luca Zennaro/Ansa, dpa

    Damit schürt der bekennende EU-Gegner einmal mehr die Anti-Brüssel-Stimmung seiner Klientel – ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt. Denn der Blick in die europäischen Bücher ergibt ein ganz anderes Bild. „Italien ist als Gründungsmitglied der EU hinter Spanien mit an der Spitze bei Fehlern und Unregelmäßigkeiten in der Umsetzung des EU-Haushaltes“, bilanzierte vor vier Jahren Inge Gräßle (CDU), damals wie heute Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses. Anlass der Aussage war die jährliche Prüfung des Europäischen Rechnungshofes, ob die den Mitgliedstaaten zugewiesenen Mittel ordnungsgemäß eingesetzt worden waren. Die Bilanz für Italien fiel niederschmetternd aus. Statt dringende Infrastrukturprojekte fertigzustellen oder zu sanieren, verteilte Rom die Subventionen aus Brüssel auf teilweise sinnfreie Vorhaben.

    Dabei konnten frühere Regierungen über für europäische Verhältnisse besonders hohe Zuwendungen allein für den Erhalt einer funktionierenden Infrastruktur verfügen. Von den 11,6 Milliarden Euro, die Italien 2016 insgesamt aus Brüssel bekam, standen 39,43 Prozent oder 4,6 Milliarden Euro allein für Straßen- und Wegebau, Brücken und Gleisverbindungen zur Verfügung. Das waren deutlich mehr Finanzmittel, als jeder andere Mitgliedstaat für diesen Bereich erhielt. Der EU-Durchschnitt liegt bei 32 Prozent der Zuwendungen.

    In Italien selbst ist nun – mal wieder – von großen Infrastruktur-Plänen die Rede, von systematischen Untersuchungen bei Brücken, Tunneln und Viadukten. Ministerpräsident Giuseppe Conte, der am Mittwoch Betroffene in Genua besucht, schreibt auf Facebook: „Was in Genua passiert ist, ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für Ligurien und ganz Italien eine tiefe Wunde.“ Am Abend ruft Conte in der Stadt den Notstand aus, er soll für zwölf Monate gelten. „Wir können uns keine weiteren Tragödien wie diese erlauben“, schreibt er. Das klingt eher nach einem Wunsch als nach echter Überzeugung.

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