Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Türkei: An diesen Gruppen könnte Erdogans Referendum scheitern

Türkei

An diesen Gruppen könnte Erdogans Referendum scheitern

    • |
    Der türkische Präsident Erdogan hat noch keine Mehrheit für sein Referendum auf seiner Seite. Und es gibt Gruppen, an denen er unerwartet scheitern könnte.
    Der türkische Präsident Erdogan hat noch keine Mehrheit für sein Referendum auf seiner Seite. Und es gibt Gruppen, an denen er unerwartet scheitern könnte. Foto: Kose, afp PHOTO

    Ein Lautsprecherwagen zwängt sich durch die engen Gassen des Istanbuler Stadtteils Kasimpasa. Aus den Boxen dröhnt die Wahl-Hymne der Regierungspartei AKP, in der Präsident Recep Tayyip Erdogan als Retter des Landes gefeiert wird. Ein paar Dutzend AKP-Anhänger folgen dem Wagen zu einer Kundgebung in der Nähe und schwenken rote und weiße Fahnen mit dem „Ja“ für das Verfassungsreferendum am 16. April. Vor ein paar Jahren wäre Ozan noch mit dabei gewesen. Aber heute sitzt der 40-Jährige auf einem Plastikstuhl am Straßenrand, schaut der AKP-Prozession zu und denkt nicht daran, sich auch eine Fahne zu schnappen. Ozan ist Mitglied der AKP und hat jahrelang bei jeder Wahl für Erdogan gestimmt. Aber am 16. April wird er „Nein“ sagen.

    Wie Erdogan, der in Kasimpasa aufwuchs, ist Ozan ein frommer Muslim und ein stolzer türkischer Patriot. Er bewundert die AKP für ihre Leistungen bei der Modernisierung des Landes in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten, für all die neuen Autobahnen, Flughäfen, Brücken und Tunnel. Doch seit ein paar Jahren ist die Partei, die er kannte und mochte, eine andere geworden. „Du darfst die Regierung nicht kritisieren, sonst landest du im Knast“, ist eines seiner Beispiele.

    Das Leben von Recep Tayyip Erdoğan

    Recep Tayyip Erdoğan wird als Sohn eines türkischen Seemanns am 26. Februar 1954 in Istanbul geboren.

    Er geht auf eine Imam-Hatip-Schule in Istanbul, ein religiös orientiertes Fachgymnasium.

    Nach der Schule besucht er die Marmara Universität in Istanbul und studiert dort Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften.

    Im Alter von 24 Jahren heiratet er seine Frau Emine.

    Erdoğan ist zwischen 1994 und 1998 Oberbürgermeister von Istanbul.

    Wegen Demagogie wird er 1999 zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, vier davon sitzt er ab.

    2001 gründet er die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP).

    2002 ist die AKP bei den Parlamentswahlen erfolgreich. Erdoğan darf wegen seiner Strafe kein öffentliches Amt ausüben.

    Er zieht 2003 nach Verfassungsänderungen durch seine Partei ins Parlament ein.

    Er übernimmt den Vorsitz seiner Partei und wird zum Ministerpräsidenten.

    In den darauffolgenden Wahlen gewinnen Erdoğan und seine Partei immer die absolute Mehrheit.

    Der Präsident hat insgesamt vier Kinder. Sein Schwiegersohn Berat Albayrak ist Mitglied des türkischen Parlamentes.

    Ozan sieht mangelnden Respekt der AKP beim Umgang mit dem Erbe von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Er sieht Korruption, die vertuscht wird. Und er sieht die Arroganz einer Regierung, die auf das Volk herabschaut. Als Kellner verdient Ozan gerade einmal genug, um sich, seine Frau und seine zwei Kinder zu ernähren. Er fühlt sich von Erdogan und der AKP nicht mehr vertreten und will aus der Partei austreten. „Es gibt viele, die so denken wie ich.“

    Erdogan hat die Mehrheit noch nicht sicher auf seiner Seite

    Zwei Wochen vor der Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen, mit denen sich Erdogan weitreichende Vollmachten als Staatsoberhaupt sichern will, werden Leute wie Ozan zu einem Problem für den Präsidenten und die AKP. Und das trotz eines sehr ungleichen Kampfes: Die Regierungspartei hat die staatlichen Institutionen und die meisten Medien auf ihrer Seite. Dennoch kann der Präsident laut den Umfragen nicht sicher sein, am 16. April mehr als 50 Prozent zu bekommen.

    Dass die großen Oppositionsparteien – die säkularistische CHP und die prokurdische HDP – für ein „Nein“ werben, ist kein Grund zur Sorge für Erdogan. CHP und HDP kommen zusammen auf nicht einmal 40 Prozent der Wählerschaft. Aber dass AKP-Stammwähler, fromme Kurden und Nationalisten mit ihrer Zustimmung zögern, bereitet der Regierungspartei Kopfzerbrechen. Die Führung der Nationalistenpartei MHP unterstützt Erdogan, doch an deren Basis grummelt es gewaltig. Die MHP-Dissidentin Meral Aksener schätzt, dass vier von fünf MHP-Wählern Erdogans Plan ablehnen werden. Die Behörden behindern Akseners Wahlkampf für das „Nein“ immer wieder mit Auftrittsverboten.

    „Die MHP ist die Schlüsselorganisation“, sagt Aydin Engin, ein altgedienter Journalist bei der Oppositionszeitung Cumhuriyet, der in den vergangenen Monaten wie zahlreiche seiner Kollegen vorübergehend im Gefängnis saß. Viele in der MHP sind sauer über die Hilfe der Parteiführung für die Präsidialpläne; Parteichef Devlet Bahceli gelte bei diesen Nationalisten als „Knecht“ Erdogans, sagt Engin.

    Was Präsident Erdogan schon über Deutschland gesagt hat

    „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ (Am 10. Februar 2008 vor 16 000 überwiegend türkischen Zuhörern in Köln)

    „Wer Deutschkenntnisse zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, verletzt die Menschenrechte.“ (Am 1. November 2011 in einem Interview der „Bild“-Zeitung)

    „Die Entscheidung, die das deutsche Parlament soeben getroffen hat, ist eine Entscheidung, die die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei ernsthaft beeinflussen wird.“ (Am 2. Juni 2016 in Nairobi nach der Resolution des Bundestages, das Massaker an Armeniern während des Ersten Weltkrieges durch das Osmanische Reich als Völkermord zu verurteilen)

    „Ihr habt das bei der Wiedervereinigung in noch größerem Ausmaß betrieben.“ (Am 10. August 2016 in Ankara nach Kritik aus Deutschland an den Entlassungen zehntausender Staatsbediensteter nach dem Putschversuch im Juli)

    „Ich glaube nicht an die deutsche Justiz und habe auch keinen Respekt vor der deutschen Justiz in diesem Zusammenhang.“ (Am 13. August 2016 in einem RTL-Interview über das vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Verbot einer Live-Schalte von Erdogan nach Köln im Juli)

    „Im Moment ist Deutschland eines der wichtigsten Länder geworden, in denen Terroristen Unterschlupf finden.“ (Am 3. November 2016 in Ankara nach deutscher Kritik an neuerlichen Festnahmen von Journalisten in der Türkei)

    „Ich dachte, dass der Nationalsozialismus in Deutschland beendet ist. Dabei dauert er immer noch an.“ (Am 5. März 2017 in Istanbul nach Absagen geplanter Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland) (dpa)

    Verängstigt die AKP Menschen?

    Musa, ein Taxifahrer in der Bosporus-Metropole, will mit „ja“ stimmen, aber nicht, weil er so begeistert ist vom Präsidialsystem, sondern weil er die Folgen eines „Neins“ fürchtet: „Dann wird die Regierung bestimmt für Chaos sorgen, um doch noch zu kriegen, was sie will.“ Aydin Engin befürchtet, dass ein Erfolg für Erdogan am 16. April ein historischer Wendepunkt für das Land werden könnte. „Jetzt könnte es unter Erdogan eine Wende um 180 Grad in Richtung asiatischer Despotismus geben.“

    Nach Einschätzung von Experten muss bei den Umfragen ein gewisser Anteil der „Ja“-Stimmen infrage gestellt werden, weil viele Menschen aus Furcht vor Repressalien den Demoskopen nicht ihre wahren Wahlabsichten verraten. Der CHP-Politiker Tacettin Bayir spricht von einem „Reich der Angst“, das die AKP errichten wolle.

    Wie viele Türken in Deutschland leben

    In Deutschland leben rund 2,85 Millionen Menschen mit türkischer Herkunft. Davon ist rund die Hälfte selbst hierher gekommen, bei der anderen mindestens eines der Elternteile.

    Staatsangehörigkeit: 2015 stellten 1,5 Millionen Türken die größte Zahl an Ausländern in Deutschland. Dazu kamen zwischen 250.000 und einer halben Million Doppelstaatler – sie sind sowohl deutsche als auch türkische Staatsbürger. Der Rest der Menschen mit türkischer Herkunft hat in der Regel einen deutschen Pass.

    Wanderung: 2015 kamen rund 32.700 Menschen aus der Türkei nach Deutschland. In die entgegengesetzte Richtung zogen etwa 30.500.

    Einbürgerungen: Seit Jahren geht die Zahl der Einbürgerungen von Türken in Deutschland zurück. 2015 erhielten knapp 20 000 Menschen einen deutschen Pass. 17,5 Prozent von ihnen behalten dabei ihre türkische Staatsangehörigkeit. Wahlberechtigte In Deutschland leben rund 1,4 Millionen Türken, die in ihrer Heimat wahlberechtigt sind. Die AKP von Präsident Erdogan hat traditionell viele Anhänger. (dpa)

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden