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Türkei: Erdogan-Kritiker: "Jeder von uns kann jeden Moment abgeholt werden"

Türkei

Erdogan-Kritiker: "Jeder von uns kann jeden Moment abgeholt werden"

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    Sieht sich von Gegnern umzingelt: Präsident Erdogan.
    Sieht sich von Gegnern umzingelt: Präsident Erdogan. Foto: Adem Altan, afp (Archiv)

    Vom „Schatten der Diktatur“ und vom „Sultanat“ schrieb die türkische Journalistik-Studentin Berivan Bila in einem Aufruf an ihre Kommilitonen, in dem sie einen aufrechten Journalismus forderte. Das reichte für einen Haftbefehl: Vor wenigen Tagen klopfte die Polizei an Bilas Tür in Trabzon im Nordosten der Türkei und führte sie ab. Die Staatsanwaltschaft wertete Bilas Beitrag, den sie in sozialen Medien veröffentlicht hatte, als Beleidigung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und erwirkte einen Haftbefehl gegen die junge Frau. Sie muss mit bis zu vier Jahren Haft rechnen.

    Bilas Schicksal ist kein Einzelfall. Laut dem Medienwissenschaftler Yaman Akdeniz eröffnete die Justiz allein im vergangenen Jahr mehr als 20.000 Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Präsidenten-Beleidigung. Schon die sanfteste Kritik  könne strafrechtlich verfolgt werden, sagte Yaman der Oppositionszeitung Cumhuriyet. Das System sei ganz darauf ausgerichtet, mutmaßliche Erdogan-Gegner zu bestrafen und zum Schweigen zu bringen. Seit 2014 sind laut Yaman rund 3400 Menschen wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verurteilt worden.

    Jeder siebte Türke steht im Visier der Staatsanwaltschaft

    Besonders seit dem Putschversuch von 2016 werden angebliche Regierungsgegner massenweise verfolgt. Insgesamt standen im vergangenen Jahr zwölf Millionen Türken – etwa jeder siebte Bürger – im Visier der Staatsanwaltschaft, wie die Oppositionspolitikerin Gamze Akkus unter Berufung auf Zahlen des Justizministeriums mitteilte. Im Jahr 2006 habe die Gesamtzahl der Verdächtigen lediglich bei knapp drei Millionen Menschen gelegen. In den kommenden Jahren sollen mehr als 200 neue Gefängnisse gebaut werden, um all die Verurteilten aufnehmen zu können.

    Die Regierung rechtfertigt das Vorgehen mit dem Argument, sie müsse das Risiko eines erneuten Umsturzversuchs ausschließen. Die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Geistlichen Fethullah Gülen, die für den Putsch verantwortlich gemacht wird, habe mit ihren Anhängern den Staatsapparat, die Armee sowie Wirtschaft und Medien unterwandert.

    Der Paragraf zur "Beleidigung des Türkentums" wird missbraucht

    Doch die Schicksale der Studentin Bila und vieler anderer Betroffener legen nahe, dass der Hinweis auf angebliche Staatsfeinde als Vorwand benutzt wird, um Erdogan-Kritiker zu verfolgen. Als Instrument diene nicht nur das strafrechtliche Verbot der Präsidenten-Beleidigung, sondern auch der berüchtigte Strafrechtsparagraph 301, der die Beleidigung des Türkentums ahndet, sagt die Opposition: Laut den von Gamze Akkus vorgelegten Zahlen wurden seit dem Jahr 2006 mehr als 4000 Menschen deshalb angeklagt.

    Fast jeden Tag gibt es neue Verhaftungen oder Gerichtsurteile. Der angesehene Neurologe und Menschenrechtler Gencay Gürsoy, ein früherer Präsident der türkischen Ärztevereinigung, wurde jetzt zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er einen regierungskritischen Friedensaufruf zum Kurdenkonflikt unterschrieben hatte.

    Verwaltung, Armee und Medien erleben immer neue Säuberungswellen

    Auch Verwaltung, Armee und Medien erleben immer neue Säuberungswellen, bei denen nachvollziehbare Verdachtsmomente kaum noch eine Rolle spielen, wie Regierungsgegner beklagen. So steht sogar die streng säkularistische Tageszeitung Sözcü als angebliche Helferin des islamistischen Predigers Gülen am Pranger – das klinge schon fast wie Satire, sagte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Doch es ist bitterer Ernst.

    Im Zuge der Ermittlungen gegen Sözcü beantragte die Staatsanwaltschaft vor wenigen Tagen bis zu 15 Jahre Haft gegen den nationalistischen Journalisten Emin Cölasan, der als scharfer Kritiker von Erdogan und Gülen gleichermaßen bekannt ist. Trotz seiner vielen Attacken gegen Gülen soll Cölasan wegen angeblicher Unterstützung für den Prediger ins Gefängnis: Die Kritik des Angeklagten an Gülen sei nur Tarnung gewesen, sagt die Staatsanwaltschaft. Bei solchen Zuständen sei niemand mehr sicher, sagte der Fernsehmoderator Fatih Portakal. „Jeder von uns kann jeden Moment abgeholt werden.“

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