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Kommentar: Erdogan hat die Tür zu Europa krachend zugeschlagen

Kommentar

Erdogan hat die Tür zu Europa krachend zugeschlagen

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    Spätestens seit dem Verfassungsreferendum ist Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan so mächtig wie nie zuvor.
    Spätestens seit dem Verfassungsreferendum ist Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan so mächtig wie nie zuvor. Foto: Tobias Schwarz, afp

    Es gibt diesen einen Moment, in dem die Macht von Recep Tayyip Erdogan am seidenen Faden hängt. Panzer auf den Straßen von Istanbul, Kampfjets am Himmel, mitten in der Nacht rufen die Muezzins – und im Fernsehen spricht der Präsident via Bildtelefon zu seinem Volk. Gespenstische Szenen. Wer den Verfolgungswahn des Despoten vom Bosporus verstehen will, findet viele Antworten in jenen dramatischen Stunden des Putschversuchs im Juli 2016. Erdogans grenzenlose Machtgier hat auch mit seiner Angst vor dem Machtverlust zu tun.

    Wer sich Erdogan in den Weg stellt, landet hinter Gittern

    Ein Jahr später scheint der Präsident unantastbar zu sein. Wer sich ihm ernsthaft in den Weg stellt, verschwindet hinter Gittern. Wer ihn auch nur ansatzweise kritisiert, betreibt in seinen Augen Terrorpropaganda. Auch die beiden deutschen Journalisten Mesale Tolu und Deniz Yücel sitzen seit Monaten in türkischen Gefängnissen. Für Erdogan sind sie Verbrecher – einfach nur, weil sie ihren Job gemacht haben. Der Präsident hat die Meinungsfreiheit in seinem Land de facto abgeschafft und ist doch immer noch getrieben von Misstrauen und Verschwörungsangst.

    Das gilt auch für den Umgang mit Deutschland. Sein Verhältnis zu Angela Merkel ist kompliziert. Erdogan provoziert die Kanzlerin immer wieder bis aufs Blut. Regelmäßig droht er damit, den Flüchtlingspakt mit der Europäischen Union aufzukündigen. Pünktlich zum G20-Gipfel wirft er der Bundesregierung politischen Selbstmord vor, weil sie ihn nicht in Deutschland auftreten lässt. Und beim Treffen mit den Staats- und Regierungschefs selbst stimmt er erst dem gemeinsamen Klima-Papier zu, um anschließend zu verkünden, er fühle sich daran keineswegs gebunden.

    Dass er sich damit an die Seite des störrischen US-Präsidenten stellt, ist kein Zufall. Genau wie das Prinzip Trump basiert auch das Prinzip Erdogan auf einer radikalen Unterteilung in Gut und Böse. Das Problem dabei: Auf der Seite der Guten ist es ziemlich übersichtlich geworden. Doch das ist den beiden Herren ziemlich egal. Mit ihrer rabiaten Art wollen sie aller Welt – und noch mehr ihren Landsleuten – beweisen, dass ihnen niemand etwas vorzuschreiben hat. In gewisser Weise funktioniert das auch. Immerhin stand eine knappe Mehrheit der Türken hinter Erdogan, als er das Volk im April darüber abstimmen ließ, ob er noch mehr Macht bekommen soll.

    Der Protestmarsch endete nach 420 Kilometern in Istanbul.
    Der Protestmarsch endete nach 420 Kilometern in Istanbul. Foto: CHP/Ziya Koseoglu, afp

    Auf dem Papier ist der 63-Jährige seitdem so stark wie nie. Im versuchten Umsturz vom 15. Juli sieht er einen Freifahrtschein für die brutale Verfolgung seiner Gegner. Doch in dieser rücksichtslosen Politik könnte schon der Keim des eigenen Niedergangs liegen. Denn Erdogan hat nicht nur sich selbst isoliert, sondern auch die Türkei. Die Tür zu Europa hat er krachend zugeschlagen. Eine Aufnahme in die EU ist nach all dem, was im vergangenen Jahr passiert ist, ausgeschlossen. Die Europäer hätten dem Sultan das im Übrigen schon viel früher und viel deutlicher klarmachen sollen.

    Hat sich das Leben der Türken unter Erdogan verbessert?

    Der Präsident geht ein großes Risiko ein. Auf dem Spiel steht die Zukunft seines Landes. Ob die Türken diesen Mann eines Tages verehren oder verdammen werden, hängt vor allem davon ab, ob sich ihr Leben unter Erdogan verbessert hat. Solange die Wirtschaft boomte, konnte er sich als Macher inszenieren. Die Türkei war wieder wer. Doch der Boom ist vorbei, mit dem Tourismus ging es bergab.

    Der Protestmarsch der Opposition, dem sich gerade Hunderttausende angeschlossen haben, zeigt, dass der Widerstand jener Türken, die in einem demokratischen Land leben wollen, nicht gebrochen ist. Sie sind die größte Gefahr für Recep Tayyip Erdogan.

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