Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Syrien: Hunderte Christen in der Gewalt der IS-Miliz

Syrien

Hunderte Christen in der Gewalt der IS-Miliz

    • |
    Mit einer Mahnwache wird in Berlin an das Schicksal der assyrischen Christen in der Provinz al-Hassaka in Syrien erinnert, die unter dem Terror der IS leiden.
    Mit einer Mahnwache wird in Berlin an das Schicksal der assyrischen Christen in der Provinz al-Hassaka in Syrien erinnert, die unter dem Terror der IS leiden. Foto: Tim Brakemeier, dpa

    Sie kamen im Morgengrauen. Und sie wussten genau, wonach sie suchen: Christen. Ältere Männer, Frauen und Kinder. Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) haben die assyrischen Orte am Ufer des Flusses Al-Khabour in der Provinz Al-Hasake, im Nordosten Syriens, überfallen. Elf Dörfer liegen dort wie an einer Perlenkette aufgezogen entlang des Flusslaufes. Wir sprachen mit Issa Hanna von der Assyrischen Demokratischen Organisation (ADO): „Ich habe mit unseren Kontaktpersonen in Syrien telefoniert: Nach meinen Informationen sind 287 assyrische Christen verschleppt worden“, sagt der Syrer, der in Augsburg lebt.

    Unmittelbar nach den Überfällen setzte eine Fluchtwelle aus den Dörfern in Richtung der syrisch-türkischen Grenze ein. Insbesondere in Qamischli sammeln sich immer mehr Christen – die Stadt steht unter dem Schutz der kurdischen Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten (YPG). Assyrer, die nicht fliehen konnten, wurden von kurdischen Kämpfern aus den Orten in sichere Gebiete transportiert. „Die Dörfer sind jetzt nahezu menschenleer, bis auf den Ort Tal Shamiran. Dort haben sich IS-Kämpfer mit christlichen Geiseln verschanzt. Sie sind von der YPG, aber auch von assyrischen Einheiten eingekesselt“, sagt Hanna. Die Situation sei – nach allem was er wisse – dramatisch.

    Das ist die Organisation IS

    IS ist eine islamistische Organisation. Sie hat das Ziel, einen Islamischen Staat zu errichten. Dieses Kalifat soll die Länder Syrien und Irak, aber auch den Libanon, Israel und Jordanien miteinander vereinen.

    IS steht für Islamischer Staat. Gebräuchlich ist auch die Abkürzung ISIL, das steht für Islamischer Staat im Irak und in der Levante oder ISIS für Islamischer Staat im Irak und in Syrien.

    Ihr Ziel verfolgen die Anhänger der Organisation mit militärischen Mitteln und brutalster Gewalt, darunter Bombenattentate, Folter, und Hinrichtungen von Zivilisten.

    IS kämpft an vielen Fronten. Die Terrorgruppe geht bewaffnet gegen die Regierungen in Syrien und im Irak vor, führt Krieg gegen schiitische Gläubige und vermeintliche sunnitische Kollaborateure.

    Die IS hat ihre Wurzeln in der Widerstandsbewegung gegen die Besetzung des Iraks nach dem Irakkrieg 2003.

    Die Gruppe profitierte 2013 vom Machtkampf der von Schiiten dominierten Regierung in Bagdad mit Sunniten und beherrscht inzwischen weite Teile des Iraks.

    Im syrischen Bürgerkrieg hat Isis vor allem im Nordosten des Landes die Kontrolle erlangt. Dort griff die Gruppe kurdische Städte an und massakrierten Zivilisten.

    In den besetzten Gebieten verordnen die Dschihadisten der Bevölkerung strenge Regeln. So sollen Frauen die Häuser nur noch verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist. Alkohol und Rauchen ist verboten, ebenso Veranstaltungen und freie Presse.

    Im April 2014 sagte sich IS von Al-Kaida los. Deren Führung habe sich von den Grundsätzen des "Heiligen Krieges" entfernt, hieß es.

    Wie viele Menschen sich IS angeschlossen haben, ist unklar. Schätzungen sprechen von bis zu 15.000 Kämpfern.

    Anführer der Bewegung ist seit Mai 2010 Abu Bakr al-Baghdadi. Die USA führt ihn als einen der meistgesuchten Terroristen der Welt.

    IS wirbt im Internet aktiv um Kämpfer aus Europa. «Isis macht eine sehr gute Öffentlichkeitsarbeit», sagte der EU-Koordinator für Terrorismusbekämpfung, Gilles de Kerchove. Die Islamisten hätten sogar Kameras auf ihre Kalaschnikows geschraubt, um ihre Operationen in Echtzeit im Internet zu übertragen.

    Finanziert wurde IS zu Beginn von saudischen und katarischen Gönnern. Mittlerweile hat die Organisation mit mafiösen Methoden eigene Einnahmequellen erzeugt, etwa mit dem Schmuggel von Öl.

    Was mit den Verschleppten geschehen ist, ist unklar. Allerdings liegen Hanna Erkennnisse vor, dass der IS einen Teil der Geiseln auf einem Stützpunkt auf dem Berg Abdul Aziz, der ebenfalls in der Provinz Al-Hasake liegt, versteckt halten. Anderen Quellen zufolge sind Christen auch in die inoffizielle Hauptstadt des IS, nach Rakka, gebracht worden.

    Die Islamisten wollen mit den Geiseln Geld verdienen

    Hanna geht davon aus, dass der IS, der zuletzt einige empfindliche militärische Rückschläge im Irak, aber auch in Syrien hinnehmen musste, mit den Geiseln Geld verdienen will. Die Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete gestern, dass Verhandlungen über die Freilassung der Entführten unter Vermittlung arabischer Stammesvertreter im Gange seien. „Es ist auch denkbar, dass der IS die Christen gegen Mitkämpfer austauschen will, die sich in der Gewalt von kurdischen Einheiten befinden“, sagt Hanna. Dass der IS nicht davor zurückschreckt, Gefangene gnadenlos zu ermorden, wenn kein Lösegeld zu erwarten ist, hat er mehrfach bewiesen. Gerüchte über willkürliche Hinrichtungen und Vergewaltigungen durch IS-Kämpfer konnte der syrisch-katholische Erzbischof von Hassake-Nisibi, Jacques Behnan Hindo, gestern nicht bestätigen. Die internationale Koalition, sprich die USA und ihre arabischen Verbündeten, hat gestern mit heftigen Luftschlägen gegen Stellungen der Extremisten auf die Entführungen reagiert. Sie flog Angriffe gegen IS-Truppen nahe des von Kurden kontrollierten Gebietes im Nordosten.

    Durch die neuerliche Gewalt ist die Terrormiliz ihrem Ziel, die christliche Siedlungsgeschichte in Syrien zu beenden, ein Stück näher gekommen. 1933 ließen sich die assyrischen Christen in dem fruchtbaren Flusstal am Al-Khabour nieder. Dort fanden sie nach ihrer Flucht vor der Gewalt gegen Christen im Irak eine neue Heimat. Vor dem Beginn des Krieges im Jahr 2011 lebten rund 15000 Assyrer dort. Nach drei Jahren Krieg sind Christen beinahe im ganzen Land bedroht. Längst sind unzählige Kirchen und Heiligtümer zerstört. Hanna geht davon aus, dass deutlich mehr als 500000 der einstmals 1,3 Millionen Christen aus Syrien geflohen sind.

    Die humanitäre Situation in der Provinz Al-Hasake und Qamischly, den letzten Fluchtpunkten für Christen in Syrien, ist dramatisch. Hanna appelliert an den Westen, die Menschen dort mit Spenden zu unterstützen. Der vatikanische Botschafter in Damaskus, Erzbischof Mario Zenari, sagte, die Christen in Syrien fühlten sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Dies sei die Wahrnehmung, die er in der Bevölkerung allgemein und unter Christen im Besonderen feststelle, sagte Zenari dem Radio Vatikan. Er könne diese Klage „zum Teil verstehen“.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden