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Kommentar: Ohne Neustart zerfällt die EU

Kommentar

Ohne Neustart zerfällt die EU

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    Die Regierungschefs sitzen beim EU-Gipfel an ihren Plätzen.
    Die Regierungschefs sitzen beim EU-Gipfel an ihren Plätzen. Foto: Olivier Hoslet (dpa)

    Die Europäische Union war und ist ein Glücksfall der Geschichte. Sie hat den Völkern des von zwei furchtbaren Weltkriegen heimgesuchten Kontinents Frieden und Wohlstand beschert. Was vor 60 Jahren mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge begann, ist – alles in allem besehen – eine großartige Erfolgsgeschichte geworden. Fiele Europa auseinander und zurück in die Nationalstaaterei, wäre es um seine Zukunft schlimm bestellt. Denn nur gemeinsam sind die Europäer, deren Anteil an Weltbevölkerung und Weltwirtschaft rapide schrumpft, in der Lage, sich in der Welt von morgen zu behaupten.

    Es steht also in diesen stürmischen Zeiten, in denen die EU von einer Krise in die nächste taumelt, die Briten goodbye sagen und antieuropäische Kräfte stärker werden, tatsächlich die Zukunft von 500 Millionen Menschen auf dem Spiel. Gekracht und geknirscht hat es im Gebälk der EU schon immer. Das ist unvermeidlich, wenn so viele souveräne Staaten mit ihren unterschiedlichen Interessen und Mentalitäten an einem Strang ziehen sollen. Bei allem Streit stand jedoch die Existenz der EU nie in Frage. Es galt Helmut Kohls Diktum, dass die europäische Einigung „unumkehrbar“ sei. Heute wissen wir, dass es auch anders kommen und der „Brexit“ Schule machen kann.

    Das Fundament der EU ist erschüttert

    Die Fundamente der in sich gespaltenen EU erodieren seit Jahren. Bei der Lösung einer Vielzahl von Problemen (sei es die Eurorettung, die Verteilung von Flüchtlingen oder die Entschärfung des Nord-Süd-Konflikts) kommt man nicht recht voran. Das Vertrauen vieler Europäer in die Institutionen der Union ist nachhaltig ramponiert. In ganz Europa sind populistische, antieuropäische, auf nationale Abschottung drängende Parteien auf dem Vormarsch.

    Die Union ist an einer historischen Weggabelung angelangt. Entweder findet Europa jetzt die Kraft zu einem Neuanfang oder es ist zum Scheitern verurteilt. Die seit langem fällige, immer wieder aufgeschobene Grundsatzdebatte über eine Reform der EU duldet deshalb keinen Aufschub mehr. Nur ein Neustart bietet die Chance, wieder in Tritt zu kommen. Die meisten Europäer wissen, bei allem Ärger über den Brüsseler Dirigismus, um die unschätzbaren Vorteile eines geeinten Europa. Aber sie wollen endlich wissen, wohin die Reise gehen soll.

    Die Entwicklung ist nicht mehr „unumkehrbar“

    Es sieht so aus, als ob die viel zu oft an den Menschen vorbeiredenden Eliten den Ernst der Lage erkannt hätten. Ob sie beizeiten zu Stuhle kommen? Der Erneuerungsprozess ist angeschoben, ohne dass sich schon eine klare Richtung abzeichnen würde. Die Fahrradtheorie allerdings ist erledigt. Sie besagte, dass sich Europa immer weiter in eine Richtung bewegen muss, um nicht umzufallen. Schon Ralf Dahrendorf hat dazu bemerkt: Wer mit dem Rad anhält, muss nicht umfallen – sofern er mit beiden Füßen auf dem Boden steht. So ist es. Mit beiden Füßen auf dem Boden stehen heißt, das Machbare im Auge zu behalten und eine vernünftige Balance zu finden zwischen dem, was nur Europa erledigen kann, und dem, was – vor allem auch aus Gründen demokratischer Bürgernähe – im offenbar unverwüstlichen Nationalstaat besser aufgehoben ist.

    Dies erfordert erstens eine Konzentration der EU auf jene Fragen, die – wie die Sicherheitspolitik nach innen und außen – nur gemeinsam zu lösen sind, und zweitens im Gegenzug eine Rückgabe von Kompetenzen an die nationalen Parlamente. Ein so kompliziertes Gebäude wie die EU mitten im Sturm umzubauen, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen und den Laden einigermaßen zusammenzuhalten, ist eine Herkulesaufgabe. Aber sie muss jetzt angegangen werden, weil die Zukunft Europas kein „Weiter so“ erlaubt.

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