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Zentralrat der Juden: Präsident Josef Schuster: "Unsagbare Dinge werden heute gesagt"

Zentralrat der Juden

Präsident Josef Schuster: "Unsagbare Dinge werden heute gesagt"

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    Josef Schuster absolviert viele öffentliche Auftritte, um ehrenamtlich für die Sache der Juden in Deutschland zu werben.
    Josef Schuster absolviert viele öffentliche Auftritte, um ehrenamtlich für die Sache der Juden in Deutschland zu werben. Foto: Boris Roessler, dpa

    Der letzte Patient an diesem Nachmittag hat die Praxis soeben verlassen. Josef Schuster nimmt sich Zeit für ein Gespräch. "Aber bitte nicht länger als 45 Minuten." Der nächste Termin steht an, Schuster ist diesmal als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Würzburg gefragt. Wer ihn erlebt, dem fällt schnell auf, wie strukturiert der 64-Jährige Beruf und Ehrenamt in Einklang bringt. An diesem Sonntag kandidiert der Internist aus Würzburg für weitere vier Jahre als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Seit Ende 2015 hat Josef Schuster das Amt inne. Vorgänger waren unter anderem Heinz Galinski, Ignatz Bubis, Charlotte Knobloch und zuletzt Dieter Graumann.

    Alle Zentralratspräsidenten haben sich als Mahner verstanden, als moralische Instanz in einer Gesellschaft, die die Verantwortung für die größte menschliche Katastrophe der Neuzeit trägt, für den Mord an sechs Millionen Juden in Europa. Josef Schuster hat diese Rolle wie seine Vorgänger ausgefüllt – und trotzdem war zuletzt vieles anders. Er hätte es bei seinem Amtsantritt nicht für möglich gehalten, dass mit der AfD eine rechtspopulistische Partei nicht nur mit zweistelligen Prozentzahlen in den Bundestag einzieht, sondern auch in sämtlichen 16 Landtagen vertreten ist.

    Ja, es gebe einen Rechtsruck in Deutschland, sagt Schuster, die roten Linien in der gesellschaftlichen Debatte hätten sich verschoben. "Dinge, die unsagbar schienen, werden heute gesagt." Antisemitische Klischees werden unter Nennung des vollen Namens in den sozialen Medien verbreitet. "Früher hätte man sich das nicht getraut." Gewählte Abgeordnete nennen das Mahnmal für die ermordeten Juden ein "Denkmal der Schande" oder verharmlosen die Zeit des Nationalsozialismus als "Vogelschiss der Geschichte". Ebenso unaufgeregt wie unmissverständlich bezieht Schuster gegen solche Tabubrüche Stellung. Er erhebt seine Stimme für die Demokratie.

    1450 antisemitische Straftaten im Jahr 2017

    Gleichzeitig warnt er Politiker und Medien davor, auf jede Provokation seitens der AfD anzuspringen. Ein schwieriger Spagat, das räumt er ein. Wachsamkeit sei richtig, manchmal aber sei weniger mehr. Dass die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft "Juden in der AfD" ein Thema für eine Nachrichtensendung ist, leuchte ihm ein, sagt Schuster. "Aber dass diese kleine Gruppe von 15 Aktiven gleich die erste Meldung in den ARD-Tagesthemen war, hat mich doch gewundert." In der Sache selbst kennt der Zentralratspräsident kein Vertun: "Nein, die AfD ist keine Partei für Juden." Da reiche ein Blick ins bayerische Wahlprogramm, wo unter anderem ein Verbot des Schächtens und der Beschneidung von Jungen gefordert werde. Und auch von AfD-Angriffen gegen den Islam distanziert sich Schuster. Heute würden Muslime attackiert, beim nächsten Mal sei es womöglich eine andere (religiöse) Minderheit.

    1450 antisemitische Straftaten bilanziert die Kriminalstatistik deutschlandweit für 2017, zuletzt sind die Zahlen weiter gestiegen. Die Frage, wie sicher jüdisches Leben in Deutschland ist, habe an Aktualität gewonnen, erklärte Schuster kürzlich beim Gedenken an die NS-Pogrome von 1938. Bei aller Kritik auch an Sicherheitsbehörden, die manchmal leider nicht mit der notwendigen Konsequenz und Härte bei Übergriffen ermittelten, betont der Zentralratspräsident aber: Während es sich bei den Geschehnissen vor 80 Jahren um staatlich initiierte und gelenkte Gewaltakte gegen Juden gehandelt habe, stellten sich der Staat und die Mehrheit der Bevölkerung heute schützend vor Minderheiten. Die Zivilgesellschaft zeigt Gesicht, wenn es Hetze wie zuletzt in Chemnitz gibt. Führende Repräsentanten, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel, sitzen Seite an Seite neben Schuster in der ersten Reihe, wenn in der Berliner Synagoge der Übergriffe von 1938 gedacht wird. Der Draht zu den Politikern in Berlin und München sei gut und kurz, betont Schuster.

    Schuster: "Zentralratspräsident ist ein Ehrenamt"

    Als Zentralratspräsident vertritt er rund 100.000 deutsche Juden, die in 105 Gemeinden organisiert sind. Insgesamt leben hierzulande rund 150.000 Juden, schätzt der 64-Jährige. Es sei wie bei den Christen auch: Manch einer wolle sich nicht einer Gemeinde anschließen, andere wollten die sogenannte Bekenntnissteuer, die Juden analog der Kirchensteuer bezahlen, nur umgehen.

    Schuster selbst sieht sich als eher traditionell geprägten Juden, der aber auch liberalen Strömungen aufgeschlossen ist. Im Hause Schuster wird koscher gekocht. Um an Fleisch und Wurst von Tieren zu kommen, die gemäß der jüdischen Speisegesetze geschlachtet wurden, fährt die Familie regelmäßig ins elsässische Straßburg, wo es einen koscheren Supermarkt gibt.

    Schuster will auch künftig weiter als Mediziner arbeiten. Vier Tage die Woche sei er durchschnittlich in der Praxis. "Zentralratspräsident ist ein Ehrenamt, als Arzt verdiene ich meine Brötchen", sagt er. Dank seiner langjährigen Mitarbeiterinnen gelinge das Zeitmanagement. Dass er zu den am meisten gefährdeten Persönlichkeiten in Deutschland gehört, daran hat sich Josef Schuster gewöhnen müssen. Immer, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegt, sind Sicherheitsbeamte an seiner Seite. Mal mehr, mal weniger erkennbar. Ein paar Freiräume für Familie und Freunde will sich der Vater zweier erwachsener Kinder erhalten.

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