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Türkei: Vor der Präsidentenwahl: Recep Tayyip Erdogan spaltet die Türkei

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Vor der Präsidentenwahl: Recep Tayyip Erdogan spaltet die Türkei

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    In wenigen Tagen will sich der türkische Regierungschef Erdogan zum Staatsoberhaupt wählen lassen.
    In wenigen Tagen will sich der türkische Regierungschef Erdogan zum Staatsoberhaupt wählen lassen. Foto: Sedat Suna (dpa)

    Welten trennen die Menschen, die im Gassengewirr der Innenstadt von Istanbul nah beieinanderleben. In der einen Welt steht Kesim Altintas, 61, ein stämmiger Mann mit langem Schnurrbart, an einer Straßenecke und schwatzt mit einem Bekannten. Dass er bei der Präsidentenwahl an diesem Sonntag den Favoriten Recep Tayyip Erdogan wählen wird, steht fest. Und dass Erdogan haushoch gewinnen wird, ist für ihn ebenso klar. Warum? „Was der alles gemacht hat!“,  ruft Altintas aus.  „Sogar einen Tunnel unter dem Meer gegraben hat er.“ Er empfindet es gewissermaßen als Bürgerpflicht, Erdogan zu wählen.  „Gott strafe mich, wenn ich was Schlechtes über ihn sage.“ 

    Bis zum Twitter-Verbot: Wie die Probleme für Erdogan anwuchsen

    Seit fast einem Jahr befindet sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan unter zunehmenden Druck. Hier die wichtigsten Ereignisse dieser Zeit im Überblick, von den Gezi-Protesten bis zum Twitter-Verbot:

    31. Mai 2013: Das brutale Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten, die im Istanbuler Gezi-Park gegen ein Bauprojekt der Regierung protestieren, löst landesweite Straßenschlachten in der Türkei aus. Acht Menschen sterben, tausende werden verletzt.

    15. Juni 2013: Erdogan lässt den Gezi-Park gewaltsam räumen.

    13. November 2013: Erdogan beginnt seinen Kampf gegen die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen mit der Ankündigung, private Nachhilfeschulen zu schließen; diese sind eine wichtige Einnahmequelle für die Bewegung.

    17. Dezember 2013: Istanbuler Staatsanwälte lassen mehrere Dutzend Verdächtige aus dem Umfeld der Erdogan-Regierung unter Korruptionsverdacht festnehmen. Erdogan spricht von einem Komplott der Gülen-Bewegung und reagiert mit der Versetzung vieler leitender Polizeibeamter, darunter auch des Polizeichefs von Istanbul.

    25. Dezember 2013: Erdogan bildet sein Kabinett um, nachdem drei in den Korruptionsskandal verwickelte Minister ihren Rücktritt eingereicht haben. Ein vierter Minister, der ebenfalls im Zusammenhang mit der Affäre genannt wird, verliert im Zuge des Revirements seinen Posten.

    24. Februar 2014: Im Internet tauchen die Mitschnitte von Telefonaten Erdogans mit seinem Sohn Bilal auf, in denen die beiden angeblich besprechen, wie sie größere Geldsummen vor der Justiz verstecken können. Erdogan bezeichnet die Mitschnitte als Manipulation.

    21. März 2014: Erdogans Regierung lässt den Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter sperren, über den viele der Korruptions-Enthüllungen publik geworden sind.

    26. März 2014: Ein Verwaltungsgericht in Ankara ordnet die Aufhebung der Twitter-Sperre auf. Erdogans Regierung sagt eine Umsetzung des Urteils zu. Der Zugang zu dem Kurznachrichtendienst bleibt trotzdem vorerst gesperrt.

    In der anderen Welt, eine Seitenstraße entfernt, lehnt der Koch Süleyman Gül in einer Zigarettenpause an einem Wagen vor dem Restaurant, in dem er arbeitet. Gül, 50, ist Alevit und wird auf keinen Fall Erdogan wählen. Die Aleviten, eine islamische Minderheit, die sich von der sunnitischen Mehrheit in der Türkei unterdrückt fühlt, tendieren traditionell zu linken Parteien.

    Gül will für den Kurdenkandidaten Selahattin Demirtas stimmen. Erdogan-Gegner wie er befürchten, dass unter einem Präsidenten Erdogan die Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt und in der Türkei ein autoritäres Regime errichtet wird.  „Wenn Erdogan gewinnt, dann ist das eine Katastrophe, dann ist es aus mit der Demokratie.“

    Recep Tayyip Erdogan spaltet die türkische Gesellschaft wie nie zuvor

    Nach mehr als zehn Jahren auf dem Posten des Regierungschefs greift der 60-jährige Erdogan an diesem Sonntag nach dem höchsten Staatsamt. Der erfolgreichste türkische Politiker seit einem halben Jahrhundert hat die putschsüchtigen Militärs entmachtet, er hat einen Wirtschaftsboom entfesselt, der den Menschen einen vorher nie da gewesenen Wohlstand beschert hat, er hat die Türkei zu einer Regionalmacht aufsteigen lassen – und er hat die türkische Gesellschaft gespalten wie niemand zuvor.

    Ihrem  „Tayyip“, wie er von Freund und Feind genannt wird, einem frommen Muslim, der aus einfachen Verhältnissen stammt, trauen die Türken alles zu: die einen alles Gute, die anderen alles Schlechte. Nach einer Umfrage des US-Instituts Pew schreiben 48 Prozent der Türken ihrem Premier einen positiven Einfluss auf das Land gut – aber ebenso viele sehen einen schlechten Einfluss.

    In den Umfragen liegt  „Tayyip“  dennoch mit bis zu 57 Prozent weit vorne. Der Gegenkandidat der großen Oppositionsparteien, Ekmeleddin Ihsanoglu, pendelt zwischen 35 und 40 Prozent, der Kurdenkandidat Demirtas bei sechs bis neun Prozent. 

    Die Verlässlichkeit der Voraussagen wird besonders von Erdogan-Gegnern angezweifelt. Sie argwöhnen, einige regierungsfreundliche Institute wollten den Oppositionswählern das Gefühl vermitteln, dass die Sache gelaufen ist, dass es sich nicht lohnt, am Sonntag zur Urne zu gehen. Bei den Kommunalwahlen im März lagen einige Umfragewerte der Erdogan-Partei AKP rund fünf Prozentpunkte über dem tatsächlichen Ergebnis. Auch das Desinteresse der türkischen Auslandswähler, von denen eine große Unterstützung für Erdogan erwartet wurde, bei denen die Beteiligung aber unter zehn Prozent blieb, könnte Erdogan schaden.

    Opposition: Ihsanuglu fürchtet abermalige Manipulationen

    Herausforderer Ihsanoglu warnt zudem vor möglichen Manipulationen. Es seien 71 Millionen Wahlzettel für 53 Millionen Wähler gedruckt worden, sagt er – und stellt die Frage, was mit den 18 Millionen überzähligen Zetteln geschieht. Bei der Stimmenauszählung nach den Kommunalwahlen im März hatte die Opposition viele Schummeleien beklagt. In einigen Städten fiel während der nächtlichen Auszählung plötzlich der Strom aus. Die Regierung erklärte, streunende Katzen seien in Trafohäuschen geschlichen und hätten Kurzschlüsse ausgelöst. Das ganze Land lachte, aber bei einigen war es ein bitteres Lachen.

    Schafft Erdogan am Sonntag nicht mindestens 50 Prozent plus eine Stimme, muss er am 24. August in die Stichwahl. Der Alevit Gül ist sicher, dass sein Kandidat Demirtas den niedrigen Umfragewerten zum Trotz mindestens 20 Prozent der Stimmen einfahren wird – was Erdogans Sieg im ersten Wahlgang verhindern würde.

    Bei Gül ist natürlich der Wunsch der Vater des Gedankens. Aber es ist nicht zu übersehen, dass der 41-jährige Anwalt Demirtas einen sehr wirksamen Wahlkampf hingelegt hat. Er präsentierte sich als liberale und säkulare Alternative zu Erdogan und brachte der nicht-kurdischen Öffentlichkeit in der Türkei mit seinem weltmännisch gewandten und gemäßigten Auftreten ein neues Bild von den Kurden nahe.

    „Er ist ein guter Mann“, sagt der Istanbuler Riza Arslan. Gerade rattert ein Wahlkampf-Kleinbus mit Demirtas-Bildern durch seine Straße, laute Musik plärrt aus einem Lautsprecher auf dem Autodach. Arslan blickt dem Wagen nach. Er ist AKP-Stammwähler, am Sonntag wird er wieder für Erdogan stimmen. Aber Demirtas nötigt ihm Respekt ab.  „Ein guter Mann“, wiederholt er.  „Leider in der falschen Partei.“

    Die Bevölkerung ist von Erdogans autoritärem Führungsstil beeindruckt

    Leute wie Arslan können nicht verstehen, was jemand gegen Erdogan haben kann. Für sie zählen der Wirtschaftsaufschwung, die vielen Straßenkilometer, die in den vergangenen Jahren vierspurig ausgebaut wurden, oder die Reformen im Gesundheitssystem, die auch armen Türken den Zugang zu modernen Kliniken ermöglichten. Auch Erdogans autoritärer Führungsstil beeindruckt sie.

    „Die Türkei braucht einen mutigen Mann an der Spitze“, sagt der 31-jährige Osman Göksu. Deshalb unterstützt er Erdogans Pläne für einen Umbau der Türkei von einer parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialsystem. Im Falle eines Wahlsieges will Erdogan „rennen und schwitzen“, wie er sagt, um das Land aus dem Präsidentenpalast heraus zu regieren.

    Die derzeitige Verfassung gibt dem Präsidenten nur wenige Machtinstrumente, die er aber voll ausnutzen will, etwa das Recht zur Leitung von Kabinettssitzungen. Mit Verfassungsänderungen will er das neue System in den kommenden Jahren ausbauen. Der neue Ministerpräsident der Türkei wird unter Erdogan wohl nicht viel zu sagen haben. Außenminister Ahmet Davutoglu und Vizepremier Bülent Arinc gelten als aussichtsreiche Kandidaten.

    Mit seinen Plänen für eine  „aktive“  Präsidentschaft fordert Erdogan den Widerspruch des säkularistischen Establishments in Justiz, Bürokratie und Militär heraus. 1998 hatten ihn seine Gegner aus diesem Lager wegen religiöser Volksverhetzung mehrere Monate ins Gefängnis gebracht. Doch aufhalten konnten sie ihn nicht. Erdogan hat mit seiner AKP-Regierung die alten Eliten der Türkei verdrängt. 2007 setzte er seinen Freund Abdullah Gül als Staatspräsident gegen die Säkularisten durch, vier Jahre später entmachtete er die Militärs.

    Erdogan sieht sich als Opfer von Unterdrückung und Arroganz

    Trotz aller politischen Siege und einem halben Dutzend gewonnener Wahlen hat sich bei Erdogan eines nicht verändert: Nach wie vor sieht er sich selbst und „seine“ Leute als Opfer von Unterdrückung und Arroganz. Diese Weltsicht erstarrte im Laufe der Jahre zu der Überzeugung, dass jede Gegnerschaft gegen die AKP-Regierung von dunklen Motiven getragen sein muss.

    Und genau so handelt Erdogan inzwischen. Hinter den Protesten von Umweltschützern und unzufriedenen Bürgern um den Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr ortete er eine internationale Verschwörung gegen die Türkei.

    Rechtlich stößt Erdogan mit seinem Ziel, das Machtgefüge in der Türkei zu verändern, in unbekanntes Gebiet vor. Weil die Verfassung die Rolle des Staatsoberhauptes eher passiv beschreibt, gibt es keine festen Regeln. Der niederländische Ex-Europaabgeordnete und Türkei-Experte Joost Lagendijk erwartet nach einem Wahlsieg Erdogans viele Auseinandersetzungen zwischen dem neuen Staatsoberhaupt und dem Verfassungsgericht. Es ist die einzige Institution im Land, die Erdogan noch Paroli bieten kann. Erdogan strebe ein System an,  „das von einem Mann dominiert wird und keine effektiven Kontrollmechanismen hat“, schrieb Lagendijk in der Oppositionszeitung  Today’s Zaman. Am Sonntag wird sich zeigen, ob sich die Türken auf dieses Experiment einlassen wollen.

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