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Antisemitismus: Warum der Judenhass nie vollständig verschwinden wird

Antisemitismus

Warum der Judenhass nie vollständig verschwinden wird

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    In Deutschland gibt es immer noch Antisemitismus - aber auch viele Menschen, die sich dagegen wehren.
    In Deutschland gibt es immer noch Antisemitismus - aber auch viele Menschen, die sich dagegen wehren. Foto: Hannibal Hanschke, dpa

    Wie viel Antisemitismus gibt es noch in Deutschland? Wir haben uns mit der Antisemitismusforscherin Juliane Wetzel aus München darüber unterhalten.

    Am Sonntag spricht unter anderem Kanzlerin Angela Merkel bei der Großdemonstration gegen Antisemitismus in Berlin, nachdem es jüngst zu antijüdischen Übergriffen in Deutschland kam. Gibt es eine neue Dimension des Antisemitismus?

    Juliane Wetzel: Das kommt drauf an, was man darunter versteht. Die Veranstalter reagieren auf Demonstrationen während des Gaza-Konflikts, wo antisemitische Kampfrufe zu hören waren. In Wuppertal gab es einen Anschlag auf die Synagoge, und es gab Übergriffe auf jüdische Bürger. Aber man muss leider sagen, dass das keine wirklich neue Situation ist. Wenn in Nahost die Gewalt eskaliert, kommt es immer auch in Deutschland zu einem deutlichen Anstieg von antisemitischen Straf- und Gewalttaten. Eine neue Dimension gibt es zweifellos von radikalen antisemitischen Äußerungen im Internet.

    Wie groß ist das Problem des Antisemitismus in der allgemeinen Bevölkerung?

    Wetzel: Studien haben gezeigt, dass es seit vielen Jahren einen stabilen Anteil in der Bevölkerung von 15 bis 20 Prozent gibt, der antisemitische Haltungen vertritt. Wir sprechen hier von einem latenten Antisemitismus. Bei diesen Umfragen wird die Zustimmung zu Vorurteilen abgefragt. Zur klassischen Form des Antisemitismus gehören Aussagen wie: „Juden üben Macht aus“, sie hätten das Sagen im Finanzsektor oder zögen aus dem Holocaust heute Vorteile. Und es gibt Fragen, die den Nahost-Konflikt einbeziehen, zum Beispiel die Israelis würden das Gleiche tun, wie die Deutschen zur NS-Zeit.

    Wie definieren Sie den Antisemitismus?

    Wetzel: Es geht um Vorurteile, Ressentiments bis hin zu Hass gegenüber Juden als Juden. Dabei geht es immer gegen Juden als Kollektiv und nicht als Einzelnen. Es ist ein künstliches Bild. Die Basis sind meist Verschwörungstheorien.

    In welchen Ländern ist der Judenhass besonders groß?

    Viele empfinden es als heikel, die Politik Israels etwa im Gaza-Krieg zu kritisieren und sprechen von einem Tabu...

    Wetzel: Es ist kein Tabu weder in Deutschland noch in einem anderen Land, die israelische Regierung, ihren Ministerpräsidenten oder das Vorgehen des Militärs zu kritisieren. Das Problem ist, wenn Israel und der Nahost-Konflikt als Plattform benutzt werden, um Vorurteile gegen Juden zu verbreiten.

    Wann wird es besonders problematisch?

    Wetzel: Wenn in Bezug auf Israel Begriffe verwendet werden, die man mit der NS-Zeit in Verbindung bringt, wie „Vernichtungskrieg“ oder „Konzentrationslager“. Von Manchen wird damit versucht, eine Täter-Opfer-Umkehrung herzustellen. Hier sollen die Israelis und damit die Juden auch zu Tätern gemacht werden, um damit die eigene Verantwortung und die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der NS-Zeit von sich zu schieben. Wer unbedacht solche Begriffe verwendet, um seine Kritik an der israelischen Politik zuzuspitzen, verstärkt solche Resonanz.

    Ist der Antisemitismus in Deutschland angesichts des Holocaust weniger ausgeprägt als in anderen Ländern?

    Wetzel: Bei dem in Umfragen gemessenen Antisemitismus liegt die Bundesrepublik im europäischen Mittelfeld. In den vier Ländern Polen, Ungarn, Spanien und Portugal sind die Werte deutlich höher, in den Niederlanden zum Beispiel sind sie deutlich niedriger ausgeprägt.

    Sensibilität ist gefordert

    Konzentrieren wir uns mehr auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart?

    Wetzel: Die Bildungspolitik setzt sich zu wenig mit den aktuellen Formen des Antisemitismus auseinander. Wenn es auf dem Schulhof zu Pöbeleien kommt, wie „du Jude“, heißt die Reaktion oft, wir gehen in die nächste Gedenkstätte. Wer aber denkt, dass man so etwas wegbekommt, indem man mit der Klasse nach Dachau fährt, irrt.

    Was wären die richtigen Mittel?

    Wetzel: Man muss sich auch aktuell mit dem Nahost-Konflikt beschäftigen und sich gegen Gleichsetzungen wehren: Man kann Juden, die in Deutschland leben, natürlich nicht für die Politik in Israel verantwortlich machen. Man muss klarmachen, dass Israel ein demokratisches Land ist, wo die Medien harscher als alle anderen die Politik der Regierung kritisieren. Und wir brauchen mehr Sensibilität für die subtilen Formen des Antisemitismus. Wir erleben aber oft Lehrer, die hier selbst mit Vorurteilen zu kämpfen haben.

    Ist offener Antisemitismus auf Rechtsextremisten und Islamisten beschränkt?

    Wetzel: Neunzig Prozent aller antisemitischen Straftaten haben einen rechtsextremistischen Hintergrund. Dann gibt es muslimische Jugendliche, die sich mit den Palästinensern solidarisieren und etwa bei Demonstrationen antisemitische Sprüche skandieren. Das sind nicht unbedingt radikale Islamisten. Aber wir sollten aufpassen zu sagen, Antisemitismus sei nur etwas von Rechtsextremisten und Muslimen.

    Verschwörungstheorien im Internet

    Sondern auch von der Mitte der Gesellschaft?

    Wetzel: Ja. Man braucht sich nur die Online-Kommentare unter den Artikeln seriöser Zeitungs-Internetseiten anzuschauen. Beim Thema Nahost, in der Beschneidungsdebatte und selbst bei der Vorstellung des Antisemitismus-Berichts für den Bundestag gab es geradezu Massen hochproblematischer Äußerungen, die zeigen, wie sehr auch Konsumenten seriöser Medien anfällig sind.

    Was kann jeder Einzelne tun?

    Wetzel: Jeder sollte sich hinterfragen, wenn eine bestimmte Gruppe von Menschen etikettiert oder in eine Schublade gesteckt wird. Das betrifft natürlich nicht nur Juden. Man sollte vor allem im Internet aufpassen, nicht auf antisemitische Verschwörungstheorien hereinzufallen, die immer stärker über soziale Netzwerke Verbreitung finden. Hier ist es wichtig, stärker Gegenposition zu beziehen. Es ist richtig, dass gegen offen antisemitische, homophobe Seiten wie „kreuz.net“ vorgegangen wird, was zumindest in Deutschland zur Abschaltung dieser Seite führte.

    Haben Sie die Hoffnung, dass der Antisemitismus irgendwann ausstirbt?

    Wetzel: Ich glaube nicht, dass der Antisemitismus je verschwinden wird, selbst wenn es einmal eine friedliche dauerhafte Lösung im Nahost-Konflikt geben sollte. Der Antisemitismus beruht immer auf einer Klischeevorstellung von Juden, egal was sie in Wirklichkeit tun. Er wird leider von einer Generation auf die nächste weitergereicht.

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