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Flüchtlingskrise: Wenn Flüchtlingskinder verschwinden

Flüchtlingskrise

Wenn Flüchtlingskinder verschwinden

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    Ein Bett nur für eine Nacht: Immer wieder machen sich minderjährige Flüchtlinge ohne Angehörige schnell wieder aus dem Staub.
    Ein Bett nur für eine Nacht: Immer wieder machen sich minderjährige Flüchtlinge ohne Angehörige schnell wieder aus dem Staub. Foto: Daniel Karmann/dpa (Archiv)

    Dies ist eine Geschichte, die viel erzählt über die Flüchtlingskrise unserer Zeit. Sie handelt von Schicksalen genauso wie von Menschen, die sich nichts sagen lassen. Von chaotischen Bedingungen wie von hilflosen Behörden. Aber auch davon, was Statistiken erzählen und was nicht.

    Die Geschichte beginnt mit Ahmad. Er war 16 Jahre alt, als er nach Italien kam. Jetzt will er am liebsten wieder zurück in seine Heimat Ägypten. Aber er kann nicht, er hat kein Geld. „Ich habe meinen Freunden zu Hause gesagt, dass sie nicht kommen sollen“, erzählt Ahmad. Aber sie glauben ihm nicht. „Sie werden schon sehe“, sagt der junge Mann.

    Ahmad ist einer von zehntausenden minderjährigen Flüchtlingen, die ohne Angehörige in Europa gelandet sind. Inzwischen ist er in Rom und schlägt sich mit seinesgleichen um Arbeit. Dutzende Jungs in seiner Situation konkurrieren um einen Job auf dem Großmarkt, in Pizzerien, in Autowaschanlagen. Für einen Stundenlohn von zwei, drei, mit viel Glück fünf Euro.

    Vermisste Flüchtlingskinder: Viele irren unkontrolliert durch Europa

    Mitten hinein in das anonyme Leben von Ahmad fällt nun eine alarmierende Nachricht der europäischen Polizeibehörde Europol. Mindestens 10 000 alleinreisende Flüchtlingskinder seien in den vergangenen 18 bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden. „Es ist nicht abwegig zu sagen, wir suchen nach mehr als 10 000 Kindern“, sagt Europol-Chef Brian Donald der britischen Wochenzeitung The Observer. Er äußert die Sorge, viele Kinder und Jugendliche könnten in die Fänge krimineller Organisationen gelangt sein. „Wir wissen einfach nicht, wo sie sind, was sie tun und mit wem sie zusammen sind“, sagt Donald. Viele irren unkontrolliert durch Europa. Von „kleinen Geistern“ schreiben italienische Zeitungen. Ahmad ist einer von denen, die sich den Behörden entziehen. Etwa 5000 soll es allein in Italien geben.

    Valentina Murino trifft täglich mit solchen Heranwachsenden zusammen. Sie leitet am Stadtrand von Rom das „A28“, eine private Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Zwischen zehn Uhr abends und zehn Uhr morgens stellt „A28“ Betten, Duschen, Kleider, psychologische und rechtliche Betreuung sowie ein warmes Essen zur Verfügung. Einzige Bedingung: Die Gäste müssen unter 18 Jahre alt sein. Für Dokumente oder Daten interessieren sich Murino und ihre Helfer nicht. Sie wollen einzig und allein nächtlichen Schutz geben. „Manche halten unsere Arbeit für illegal, aber die Unterstützung Minderjähriger steht für uns über allem anderen“, sagt Murino.

    Mehr als 2500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben seit 2011 auf den Service von „A28“ zugegriffen. Der überwiegende Teil stammt aus Afghanistan, Eritrea, Ägypten, Somalia oder Bangladesch. Die Kinder, im Schnitt etwa 15 Jahre alt, ziehen nach wenigen Tagen weiter. Vor allem nach Deutschland; bevor die Grenzen dichtgemacht wurden, auch nach Skandinavien.

    Die Jugendlichen wollen nicht erfasst werden, weil sie fürchten, sonst wegen der geltenden Asylregeln in Italien hängenzubleiben. Sie umgehen jede Art von Kontrolle oder Registrierung, um ihr Ziel zu erreichen. Sollten sie in eines der 15 staatlichen Auffanglager für minderjährige Flüchtlinge etwa auf Sizilien geraten, ergreifen sie gleich wieder die Flucht. So kommt die Zahl der „Vermissten“ zustande.

    „Kinder aus Ägypten und Bangladesch bleiben meist in Italien“, sagt Murino. „Sie werden fast immer Opfer von Ausbeutung und Kriminalität.“ Ein Beispiel ist die Ausbeutung zu Arbeitszwecken, etwa im Großmarkt oder in den von Ägyptern geführten Obst- und Gemüseläden in der Stadt. Kinder aus Bangladesch heuerten häufig in von Landsleuten geführten Mini-Supermärkten an. Oft werden die Kinder und Jugendlichen auch von Kriminellen angeworben, etwa für Drogenhandel oder das Schlepper-Geschäft. Murino berichtet von einem zehn Jahre alten Jungen aus Eritrea, der vor Wochen alleine im „A28“ ankam. Schleuser hatten ihn gezwungen, an der Grenze zwischen Eritrea und Sudan für sie zu arbeiten und Flüchtlinge über die Grenze zu begleiten.

    Als er in Rom ankam, war sein Körper von Misshandlungen mit Narben und Verbrennungen übersät. „Er war erst zehn, aber sah aus wie 15“, sagt Murino. Immer wieder wird auch über Fälle von Zwangsprostitution berichtet. Vor allem Mädchen aus Nigeria seien betroffen. Zuletzt hieß es außerdem, minderjährige Ägypter hätten sich immer wieder am Bahnhof in Rom prostituiert.

    Junge Asylbewerber machen sich selbst auf den Weg

    Nun ist es so, dass Europol nicht selbst Daten über Vermisste erhebt, sondern auf die der nationalen Behörden zugreift. Das deutsche Bundeskriminalamt beispielsweise meldet, dass zum 1. Januar 4749 alleinreisende minderjährige Flüchtlinge allein in Deutschland vermisst wurden. Die Zahl stamme aus einer zentralen Datei, in der sämtliche Polizeidienststellen des Landes ihre Vermisstenfälle sammeln, sagt eine Sprecherin des BKA unserer Zeitung. Ist jemand als „vermisst“ gemeldet, muss dies zunächst keinen kriminellen Hintergrund haben. Es bedeute nur, dass sein Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der statistischen Erhebung unbekannt ist. „Es ist gut möglich, dass derjenige wieder auftaucht“, sagt die Sprecherin. Außerdem: Nicht immer werden abgeschlossene Ermittlungen sofort registriert. Die Statistik hinkt also der Wirklichkeit oft hinterher.

    Eine mögliche Erklärung für Vermisstenfälle ist zum Beispiel die: Ein junger Asylbewerber kommt in Deutschland an und wird dem Jugendamt unterstellt. Doch er möchte in eine andere Stadt und macht sich nach ein paar Tagen unbemerkt auf den Weg. Der Betreuer meldet ihn als vermisst. „Dann wird der unbegleitete minderjährige Flüchtling in einer anderen Einrichtung aufgenommen. Manche verwenden dort einen anderen Namen“, sagt die BKA-Sprecherin. In solch einem Fall sei der Asylbewerber in seiner neuen Unterkunft bekannt, gilt in der anderen aber dauerhaft als vermisst. Diese Fälle gebe es oft.

    Die Regierung von Schwaben berichtet auf Anfrage von zwölf Fällen zwischen dem 1. November und dem 27. Januar (Bayern: 785), wo junge unbegleitete Migranten zwischen der Erstmitteilung eines Jugendamtes über die vorläufige Aufnahme und der tatsächlichen bundesweiten Verteilung verschwunden sind.

    Ali wird erwischt. Der Junge ist 13 und kommt aus Afghanistan. Er wird eines Tages von Bundespolizisten in Augsburg aufgegriffen. Ali ist allein und kommt in eine spezielle Unterkunft. Nur zwei Tage später macht er sich aus dem Staub. Mitbewohner vermuten, er wolle sich zu Verwandten im Raum Frankfurt durchschlagen. Tatsächlich entdeckt ihn die Polizei kurze Zeit später im Bahnhof Hamburg-Altona, als er ein Zugticket nach Schweden lösen will. Der Junge soll wieder zurück nach Augsburg.

    Der Name der Vermissten hilft den Ermittlern oft nicht weiter

    Ali ist einer von 108 jugendlichen Flüchtlingen, die 2015 beim für Nordschwaben zuständigen Polizeipräsidium in Augsburg als vermisst gemeldet worden sind. Tendenz fallend, sagt Sprecher Siegfried Hartmann, weil unbegleitete Minderjährige jetzt im Regelfall von der Grenze in Passau direkt in die Bundesländer verteilt werden. Bei der Polizei bearbeiten Kripo-Beamte die Vermisstenfälle. Die Ermittler versuchen, von jedem jungen Flüchtling, der als verschollen gilt, einen genetischen Fingerabdruck zu bekommen – etwa von Kleidung, die er in der Unterkunft zurücklässt. Mit dieser DNA-Probe kann man den Jugendlichen identifizieren, falls er irgendwo wieder auftaucht.

    Die Suche nach den Kindern und Jugendlichen laufe ab wie bei jedem anderen Vermisstenfall auch, sagt Stefan Frey vom bayerischen Innenministerium. Zuerst würden die Beamten vor Ort versuchen, etwas über den Aufenthaltsort der jeweiligen Person herauszufinden. Sämtliche Hinweise würden zusammengetragen und in einer Lagebesprechung bewertet. Was dann passiert, „kann sich von einzelnen Abklärungen bis zu großflächigen Suchaktionen mit dem Einsatz umfassender Kräfte erstrecken“.

    Problem ist: Mit dem Namen eines Vermissten können die Ermittler in vielen Fällen nichts anfangen. Sie wissen gar nicht, ob der Name, den der Flüchtling angegeben hat, überhaupt stimmt. Viele sind ohne Ausweis geflüchtet oder haben diesen vernichtet. Von den 108 Vermissten 2015 sind nur einige wenige wieder aufgetaucht, erzählt Polizeisprecher Hartmann.

    Ob Jugendliche auch in der Region in die Fänge krimineller Banden geraten sind wie in Italien, darüber habe die Polizei keine Erkenntnisse, sagt Hartmann. Das BKA sieht das genauso. Und dass sie selbst auf die schiefe Bahn geraten sind? Hartmann spricht von „Einzelfällen“ und „kleineren Delikten – mehr nicht“.

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