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Kommentar: Wie überspannte Erwartungen Syrien schaden

Kommentar

Wie überspannte Erwartungen Syrien schaden

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    Beschädigte Gebäude nach einer Autobombenexplosion in Damaskus, der syrischen Hauptstadt (Symbolfoto).
    Beschädigte Gebäude nach einer Autobombenexplosion in Damaskus, der syrischen Hauptstadt (Symbolfoto). Foto: SANA (dpa)

    Immerhin habe keiner den Raum verlassen, erklärte der UN-Sondervermittler für Syrien, Staffan de Mistura, am Ende der siebten Runde der Friedensverhandlungen in Genf. So etwas sagt man wohl, wenn man erschöpft und desillusioniert ist, aber doch einen Hauch von Optimismus verbreiten will.

    In der Schweiz sollte es um die Bildung einer Übergangsregierung, die Arbeit an einer neuen Verfassung und erste Schritte in Richtung freier Wahlen gehen. All dies ist derzeit völlig illusorisch. So war die zarte Zuversicht nach der Verständigung zwischen den USA und Russland auf einen Waffenstillstand für den Südwesten des Landes schon wieder verflogen. Denn in Syrien wird weiter gekämpft, gefoltert und massenhaft gestorben.

    Der IS bleibt auch ohne Territorien gefährlich

    Der IS immerhin wird im Irak, aber auch in Syrien in absehbarer Zeit ohne nennenswerte eigene Territorien dastehen. Gefährlich – nicht zuletzt für den Westen – bleibt die Terrormiliz weiterhin. Bestürzend ist, dass die Verführer nach wie vor aus einem gewaltigen Reservoir an jungen, fanatisierten Moslems schöpfen können, die bereit sind, für islamistische Terrorgruppen zu kämpfen und zu sterben.

    Machthaber Baschar al-Assad verfolgt derweil – möglichst geräuschlos – seine eigene perfide Agenda: Die Feinde des Regimes in Städten wie Aleppo, Homs und vielen anderen Orten wurden und werden mit Hungerblockaden und massiven Luftangriffen, ja sogar mit Giftgas zum Aufgeben gezwungen. In einem zweiten Schritt werden Bevölkerungsgruppen, die als Gegner der Regierung gelten, aus den zurückeroberten Städten in Rebellengebiete abtransportiert. Dabei handelt es sich in erster Linie um Sunniten, aber auch um Christen, die in diesem Konflikt längst zwischen allen Stühlen sitzen.

    Angesiedelt sollen in erster Linie schiitische Moslems werden – ganz im Sinne des Verbündeten Iran, der diese Taktik massiv unterstützt. Assad weiß, dass es ihm nicht gelingen wird, jemals wieder das ganze Land in seine Gewalt zu bekommen. Vieles spricht dafür, dass es ein Syrien, wie es die Welt vor 2011 kannte, in Zukunft nicht mehr geben wird. Um das politische und physische Überleben seines Clans zu sichern, versucht er in den Gebieten, die er kontrolliert, für einen demografischen Zuschnitt der Bevölkerung zu sorgen, der seinem Machtstreben nicht im Wege steht. Die Folge wird Entwurzelung und neuer Hass sein.

    So ist die Lage in Syrien

    Opfer: Der Syrien-Krieg ist weltweit einer der opferreichsten Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit Beginn 2011 kamen nach Schätzungen der Vereinten Nationen deutlich mehr als 400.000 Menschen ums Leben. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte wiederum sprach vor wenigen Tagen von mehr als 330.000 Toten, darunter fast 100.000 Zivilisten. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ergriff seitdem die Flucht vor der Gewalt. Große Teile des Landes liegen in Trümmern. Allein die Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien haben zusammen rund 4,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.

    Islamischer Staat: Unter den Getöteten sollen auch etwa 58.000 Dschihadisten sein, zumeist Anhänger des Islamischen Staates oder Al-Kaida-naher Gruppen, so die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Erst vergangene Woche berichtete die Organisation, dass auch IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi umgekommen sei. Dies hätten hochrangige IS-Führer gesagt. Sein Tod ist allerdings schon mehrfach von verschiedener Seite gemeldet worden. Von unabhängiger Seite wurde dies bislang nicht bestätigt.

    Versorgung: Der Krieg hat dazu geführt, dass die statistische Lebenserwartung der Syrer nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO um zehn Jahre, bei Männern sogar um dreizehn Jahre gesunken ist. Die Versorgung der geschätzt etwa zwei Millionen Verletzten wird immer schwieriger. Mehr als die Hälfte aller Kliniken in Syrien sind beschädigt oder geschlossen.

    Wirtschaft: Die Wirtschaftsleistung des Landes fiel seit 2010 um rund zwei Drittel. Vor dem Krieg hatte Syrien eine Arbeitslosenquote von 14,9 Prozent; nun ist jeder zweite Syrer ohne reguläre Arbeit und etwa zwei Drittel der Bewohner leben in extremer Armut.

    Verhandlungen: Erst am Freitag ist die siebte Runde der Friedensgespräche für Syrien in Genf ohne greifbares Ergebnis zu Ende gegangen. Es habe keinen Durchbruch, aber auch keinen Zusammenbruch der Gespräche gegeben, sagte der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura. Die nächste Runde der Gespräche, die auf eine politische Lösung des Bürgerkriegs abzielen, soll im September stattfinden. De Mistura will dann erstmals alle Seiten an einen Tisch bekommen. (dpa, afp, epd)

    Die Vereinten Nationen sind nicht handlungsfähig

    Wer kann dagegen angehen? Die Vereinten Nationen sind gelähmt. Russland stoppt seit Jahren konstruktive Vorschläge per Veto. Die USA haben sich durch eine wankelmütige Politik selber ins Abseits gestellt. Ein Schlingerkurs, der schon in der Amtszeit von Barack Obama einsetzte und sich unter Präsident Donald Trump fortsetzt. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Reputation des US-geführten Lagers darunter leidet, dass es immer wieder zu hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung durch fehlgeleitete oder unpräzise Luftangriffe kommt.

    Moskau hat sein wichtigstes Ziel – zum Teil mit rücksichtslosen Bombardements – bereits erreicht: An Russland vorbei kann es keinen Frieden geben. Präsident Wladimir Putin dürfte der einzige Mann auf diesem Planeten sein, der Baschar al-Assad zunächst zu ernsthaften Verhandlungen und später zu einem dringend notwendigen Machtverzicht zwingen kann.

    Die wichtigsten Akteure im Syrien-Krieg

    Im Syrien-Krieg gibt es verschiedene Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessen.

    Regierung: Anhänger von Präsident Baschar al-Assad beherrschen die großen Städte des Landes. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte die Rebellen aber dank massiver russischer und iranischer Hilfe in vielen Gebieten zurückdrängen, unter anderem aus der Großstadt Aleppo. Assad sitzt derzeit fest im Sattel.

    Rebellen: Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten. Zu diesen gehören die mächtigen Gruppen Ahrar al-Scham und Dschaisch al-Islam. Moskau ist von seiner Forderung abgerückt, diese auf die Terrorliste zu setzen.

    Politische Opposition: Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationale Koalition in Istanbul.

    Islamischer Staat (IS): Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten weiterhin riesige Gebiete. Allerdings mussten die Extremisten in den vergangenen Monaten mehrere Niederlagen einstecken. Für sie und andere Terrorgruppen gilt die landesweite Waffenruhe nicht.

    Al-Kaida: Auch die Al-Kaida-nahe Organisation Tahrir al-Scham (Ex-Al-Nusra-Front) ist von der Feuerpause ausgenommen. Sie kämpft mit anderen Rebellen um die Vorherrschaft im Nordwesten Syriens.

    Kurden: Kurdische Streitkräfte beherrschen mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei. Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS und führen die Offensive auf die Dschihadisten-Hochburg Al-Rakka. Die Türkei betrachtet sie als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und bekämpft sie deshalb.

    Russland: Moskau ist wichtigster Verbündeter der Regierung. Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Sie richten sich gegen den IS ebenso wie gegen Rebellen, die mit der Terrormiliz verfeindet sind.

    Iran: Teheran ist ein treuer Unterstützer der Assad-Regierung. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Auch die von Teheran finanzierte libanesische Schiitenmiliz Hisbollah sowie andere bewaffnete Gruppen sind in Syrien an Assads Seite im Einsatz.

    Türkei: Sie ist mittlerweile der einflussreichste Partner der Rebellen. Ankara war neben Moskau maßgeblich daran beteiligt, dass es zu einer neuen Waffenruhe kam. Türkische Truppen sind in Nordsyrien im Einsatz, wo sie Rebellen im Kampf gegen den IS unterstützen.

    USA und der Westen: Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Deutschland stellt unter anderem sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien und ein Flugzeug zur Luftbetankung. Der Einfluss des Westens auf den Konflikt ist aber wesentlich geringer geworden. (Quelle: dpa)

    Angesichts dieser Konstellation sollten überspannte, in absehbarer Zeit nicht erreichbare Pläne für Syriens auf Eis gelegt werden. Gefragt sind kleine Schritte, Teilwaffenruhen, lokale Abkommen. Nur so könnte wenigstens in einigen Teilen des Landes die Zuversicht bei der Bevölkerung zurückkehren, dass der Krieg nicht endlos weitergeht. Das wäre ein bescheidener Anfang.

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