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Bayern: Zu spät, zu oberflächlich: Ist Sexualunterricht noch zeitgemäß?

Bayern

Zu spät, zu oberflächlich: Ist Sexualunterricht noch zeitgemäß?

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    In den vergangenen 15 Jahren hat sich wenig an den Inhalten des Sexualkunde-Unterrichts verändert.
    In den vergangenen 15 Jahren hat sich wenig an den Inhalten des Sexualkunde-Unterrichts verändert. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Sexualaufklärung ist in der Schule ein sensibles Thema. Es führt bei Schülern zu den unterschiedlichsten Reaktionen: hochrote Gesichter, peinlich berührtes Schweigen, unreifes Gelächter – alles kann passieren.

    Ganz extrem war es vor zwei Jahren an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, wo gleich sechs Schüler beim Ausmalen von Bildern von Geschlechtsteilen in Ohnmacht fielen und ins Krankenhaus geliefert werden mussten. Der Vorfall hat die Diskussion um die Sexualerziehung in Deutschland ins Rollen gebracht. Wie umfassend muss eine Sexualaufklärung sein? Welche Themen gehören dazu – und welche nicht? Während sich die Sexualaufklärung in Bayern zum Großteil im Biologieunterricht abspielt, öffnen sich andere Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz für eine offenere, fächerübergreifende Aufklärung zu der beispielsweise die Themen sexuelle Vielfalt und Gender-Mainstreaming gehören. Ist es also auch in Bayern Zeit zum Umdenken?

    Der zwölfjährige Jonas* geht in die 7. Klasse des Albrecht-Ernst-Gymnasiums im nordschwäbischen Oettingen. Auf die Frage, ob er sich denn ausreichend sexuell aufgeklärt fühle, zuckt er mit den Schultern. „In der fünften Klasse haben wir die Geschlechtsmerkmale der Menschen durchgenommen“, sagt er. „Und die Fortpflanzung des Menschen.“ Seine Mutter lenkt ein: „Wir haben unseren Sohn bereits im Grundschulalter gründlich aufgeklärt.“ Doch was ist schon gründlich? Begriffe wie Verhütungsring, Heterosexualität oder Monogamie sagen Jonas jedenfalls nichts.

    Voll aufgeklärt – aber nicht von der Schule

    Der Biologie-Lehrer Thomas Winkelhuber* weist darauf hin, dass in der 8. Klasse noch mehr auf die Vorgänge der Pubertät und die Fortpflanzung des Menschen eingegangen werde. In der 11. Klasse kommen noch Aspekte der Genetik hinzu. Erst in der 12. Klasse, wenn bei vielen die Pubertät schon fast abgeschlossen ist, wird näher auf das Sexualverhalten der Menschen eingegangen. Hier taucht dann auch beispielsweise der Begriff Monogamie im Lehrplan auf. „Aus meiner Sicht werden alle relevanten Themen entsprechend ihrer Bedeutung im Biologieunterricht abgedeckt“, sagt Winkelhuber. Man halte sich da ausschließlich an die Vorgaben des Lehrplans.

    1969 wurde der Sexualkunde-Atlas als erstes Aufklärungsbuch im Unterricht eingeführt und von der damaligen Ministerin Käte Strobel (rechts) vorgestellt
    1969 wurde der Sexualkunde-Atlas als erstes Aufklärungsbuch im Unterricht eingeführt und von der damaligen Ministerin Käte Strobel (rechts) vorgestellt Foto: dpa

    Für den 15-jährigen Linus* kommt diese Aufklärung viel zu spät. Der Schüler der 10. Klasse fühlt sich bereits voll aufgeklärt – aber nicht von der Schule, sondern vor allem von Eltern, Freunden und den Medien. „Man müsste schon viel früher mit Sexualaufklärung in der Schule anfangen“, sagt er. Zudem sei der Sexualkunde-Unterricht in der Schule viel zu oberflächlich. „Was man in den zwei bis drei Doppelstunden lernt, reicht nicht wirklich für eine umfassende Aufklärung“, sagt Linus. „Das meiste davon wissen wir eh schon.“ Deshalb sei es umso wichtiger, „mehr in die Tiefe zu gehen“.

    Zu spät, zu wenig und zu oberflächlich: Ist der Sexualunterricht an bayerischen Schulen überhaupt noch zeitgemäß? Die im bayerischen Lehrplan geltenden Richtlinien für die Familien- und Sexualerziehung stammen aus dem Jahr 2002. Seitdem ist viel passiert: Studien belegen, dass Deutschlands Kinder immer früher in die Pubertät kommen – Mädchen zum Teil schon mit acht Jahren. Mit dem Anstieg der Migration sind auch die kulturellen Vorstellungen von Sexualität und das Rollenverständnis von Mann und Frau von Kind zu Kind immer unterschiedlicher. Der Einfluss von Medien auf junge Menschen hat in den vergangenen 15 Jahren massiv zugenommen. Im Internet kann ein Kind heutzutage alles über Sex erfahren.

    Eltern bei manchen Themen nicht erste Ansprechpartner

    Die Münchner Sexualtherapeutin Dr. Heike Melzer sieht an den Schulen großen Handlungsbedarf. „Eine Überarbeitung der Lehrpläne alle Jahrzehnte erscheint mir deutlich zu träge und bürokratisch“, sagt die Medizinerin. Aus ihrer Sicht komme die positive Sichtweise auf Sexualität und die wertfreie Auseinandersetzung mit dem eigenen sexuellen Profil zu kurz. „Hier stoßen Lehrer mangels Ausbildung teilweise an ihre Grenzen.“ In der Pubertät seien Eltern bei schambesetzten Themen oftmals nicht die ersten Ansprechpartner, sagt Melzer. Gerade deshalb sei eine zeitgemäße und allumfassende Aufklärung in der Schule notwendig.

    Diesbezüglich ist das Internet, wie so oft, Fluch und Segen zugleich. Weit vor dem ersten Kuss werden Jugendliche vor dem Bildschirm an das Thema Sex herangeführt. Das führt laut Melzer zu einer großen Verunsicherung unter jungen Menschen: „Die Kluft zwischen Theorie und Praxis geht weit auseinander“, sagt Melzer. Sie beobachtet in ihrer Praxis sowohl eine steigende Anzahl von „Unberührten“ als auch von sexsüchtigen jungen Erwachsenen. „Hier muss das nötige Wissen zeitnah an die Jugendlichen gebracht werden“, fordert die Sexualtherapeutin. „Lehrpläne, in denen Themen abgehakt werden, sind nur ein Grundkorsett. Die Inhalte können von den Jugendlichen selbst kommen – vom Thema A wie Analsex zu Z wie Zwangsprostitution.“ Hierzu bräuchte es speziell ausgebildete Lehrkräfte, die nicht über ihre eigenen schambesetzten Themen, Unwissenheit und Probleme bei der ersten Frage stolpern, sagt Melzer.

    Immerhin: Im bayerischen Bildungsministerium hat man reagiert und einen neuen Richtlinienentwurf zusammengestellt. Dieser sieht vor, dass Lehrer zukünftig noch bessere Fortbildungsmöglichkeiten erhalten sollen. Zudem enthält der Entwurf mehr soziale Aspekte zur Sexualerziehung und ein Kapitel zur Bedeutung der Medienumwelt.

    Wie sieht ideale Sexualaufklärung in der Schule aus?

    Die Sex-Fantasien der Deutschen

    Sex im Freien ist laut einer Umfrage aus dem Jahr 2016 die beliebteste erotische Fantasie der Deutschen.

    Fast ein Drittel der Befragten (32,7 Prozent) wollen einmal unter freiem Himmel Sex haben, wie das Meinungsforschungsinstitut Mafo.de im Auftrag des Magazins «Playboy» repräsentativ ermittelte.

    Der Lieblingsort vieler wäre dabei der Strand - und zwar für 68,4 Prozent der Frauen und 57,4 Prozent der Männer.

    Auf Platz zwei der sexuellen Fantasien landete Oralsex (31,2 Prozent), gefolgt von Experimenten mit Sex-Spielzeug (24,4 Prozent).

    Beim Sex im Freien beobachtet zu werden, liegt laut der Umfrage dagegen gar nicht hoch im Kurs. Mit gerade einmal 3,9 Prozent ist es die am wenigsten verbreitete erotische Fantasie hierzulande - nach Gruppensex und Sadomaso-Praktiken (4,2 Prozent).

    Für die Umfrage wurden 1000 repräsentativ ausgewählte Männer und Frauen in Deutschland befragt.

    Was die Sexualerziehung aber nicht gerade leichter macht: Infolge von Zuwanderung werden die Schulklassen kulturell immer mehr durchgemischt. Wie funktioniert unter diesen Gegebenheiten eine gelungene Sexualaufklärung? „Die Lehrkräfte müssen über den sozialen und kulturellen Hintergrund ihrer Schüler informiert sein. Auf dieser Grundlage entwickeln sie Wege, um allen Schülern die Bildungsinhalte zu vermitteln“, sagt Ludwig Unger vom bayerischen Kultusministerium. Die Sexualtherapeutin Heike Melzer betont, dass respektvoll im Hinblick auf religiöse Aspekte umgegangen werden müsse: „Allerdings sollten die Werte und Grundrechte in Deutschland verteidigt und inakzeptable Praktiken anderer Länder wie die Klitoris-Beschneidung kristallklar verurteilt werden.“

    Wie sieht also die ideale Sexualaufklärung in der Schule aus? „Sie sollte möglichst früh, offen, informativ, wertschätzend und über verschiedene Kanäle erfolgen“, sagt Melzer. Und vor allem: Die Anliegen der Kinder dürfen nicht zu kurz kommen.

    In der 8. Klasse, also im nächsten Schuljahr, wird Jonas im Rahmen eines zweiten Sexualkunde-Blocks mehr zum Thema Sex und Verhütung erfahren. Eigentlich, so glaubt er, weiß er darüber schon alles Wesentliche. Was genau, damit will er vor seiner Mutter nicht so recht herausrücken. „Naja, es gibt Kondome und die Pille...“, nuschelt er verlegen. Trotz aller Versuche der Enttabuisierung bleibt die Sexualaufklärung eben ein sensibles Thema.

    Vielleicht lohnt sich ein Blick auf ein Projekt in Nordrhein-Westfalen: Dort hat kürzlich eine Klasse eine Box aufgestellt, in die jedes Kind anonym einen Zettel mit einer Frage zur Sexualität werfen durfte. Eine Sexualtherapeutin beantwortete die Fragen.

    Entgegen dem herkömmlichen Bio-Unterricht orientierten sich ihre Antworten am Horizont der Schüler. Es gab weder Gekicher noch rote Köpfe. Und das Beste: Keiner fiel in Ohnmacht.

    *Name von der Redaktion geändert

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