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Nationalmannschaft: Bundestrainer Löw gesteht: Das war „fast schon arrogant“

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Bundestrainer Löw gesteht: Das war „fast schon arrogant“

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    „Manchmal ist weniger mehr“: Joachim Löw bei der Pressekonferenz am Mittwoch in München.
    „Manchmal ist weniger mehr“: Joachim Löw bei der Pressekonferenz am Mittwoch in München. Foto: Christof Stache, afp

    109 Minuten höchste Konzentration. Immerhin, das Pensum, das Joachim Löw auf dem Podium zu erfüllen hat, ist ihm während der Weltmeisterschaft erspart geblieben. 109 Minuten, das ist beinahe die Dauer eines Fußballspiels samt Verlängerung. Ab dem Achtelfinale hätten der deutschen Nationalmannschaft derartige Partien gedroht. Sie schied aber in der Vorrunde aus. Seit jenem 0:2 gegen Südkorea am 27. Juni warteten die Fans darauf, was Löw denn nun zu seiner Verteidigung zu sagen habe. Schließlich war er es doch, der für dieses als nationale Schmach empfundene Aus hauptverantwortlich gemacht wurde.

    Der große Tag: Der Bundestrainer kommt an der Allianz-Arena in München an.
    Der große Tag: Der Bundestrainer kommt an der Allianz-Arena in München an. Foto: Lino Mirgeler, dpa

    Zwei Monate sind seitdem vergangen. Zwei Monate, in denen sich bei den Anhängern die Ansicht verfestigte, Löw fahre hauptsächlich entweder mit seinem Cabrio durch den Breisgau oder trinke Espresso in Berlin. Möglicherweise stimmt das sogar. Immerhin aber hat er auch diesen missratenen russischen Sommer analysiert. Es gebe nichts zu beschönigen, das sei ein „absoluter Tiefschlag gewesen“, eröffnet er am Mittwoch die Pressekonferenz, bei der er der Öffentlichkeit erklären soll, wie es so weit kommen konnte und warum er denn bitte glaube, weiterhin der richtige Trainer für die Nationalmannschaft zu sein.

    Am Ende sitzt Löw also 109 Minuten im Presseraum der Münchner Allianz-Arena, flankiert von Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff und Pressesprecher Jens Grittner. Der beglückwünscht zum Schluss alle Journalisten, Teilnehmer einer Rekordveranstaltung gewesen zu sein. So lange hat noch keine Pressekonferenz des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) gedauert.

    Dass reine Dauer aber nicht automatisch Qualität bedeutet, weiß Löw spätestens seit der WM. Dort hatte keine andere Mannschaft häufiger den Ball als das deutsche Team. Allein, was die Spieler damit veranstalteten, war eben nicht dazu angetan, die Gegner zu schrecken.

    Was für Joachim Löw der „allergrößte Fehler“ war

    Löw, 58, wählt nun eine andere Taktik. Das haben ihm seine Kritiker ja immer vorgeworfen: Dass er auf ein und derselben Strategie beharre, komme wer wolle. Diesmal sind es rund 100 Reporter. Die wenigsten haben am Abend des 27. Juni damit gerechnet, zwei Monate später dem Bundestrainer wieder gegenüberzusitzen. Der hat sich im Amt gehalten und zeigt nun mit seiner ersten Aktion, dass er lernfähig sein will. Er nimmt die Schuld für das Ausscheiden auf sich. Voll und ganz und ohne Ausflüchte. Wenig später geißelt er sein eigenes Coaching als „fast schon arrogant“. Er habe das von ihm präferierte Ballbesitzspiel „perfektionieren und auf die Spitze treiben“ wollen. Stattdessen hätte er seine Mannschaft darauf vorbereiten müssen, auch mal defensiver aufzutreten. „Das war der allergrößte Fehler, dass ich gedacht habe, wir schaffen es mit der Dominanz durch die Vorrunde.“

    Zehn Siege in zehn Qualifikationsspielen haben ihn zu der Annahme verleitet, auch während der WM die Gegner an die Wand zu kombinieren. Es kam anders. Derart selbstkritisch wurde Löw bislang noch nie gesehen. Allerdings hatte die deutsche Mannschaft auch noch nie derart früh eine Weltmeisterschaft verlassen müssen.

    Seitdem beschäftigen sich die Deuter des deutschen Fußballs damit, woran es denn nun gelegen habe. Klar, Mesut Özil. Abgesehen von dessen umstrittener sportlicher Qualität habe er mit den Erdogan-Fotos eine ganze Mannschaft in Erklärungsnot gebracht. Leroy Sané, logisch. Der Geschwindigkeitsdribbler hätte der deutschen Mannschaft gut getan. Der Einsatz, natürlich. Den Männern hat es am Willen gefehlt. Die Grüppchenbildung sowieso. Da war kein Teamgeist. Alles Gründe, die nicht vollkommen von der Hand zu weisen sind. Alles Gründe, die Löw in Abstufungen auch gelten lässt. Aber: „Es gibt nicht die eine Erklärung.“ Natürlich nicht. Fraglich nur, warum Löw so lange Gerüchte und Geschichten in der Öffentlichkeit kursieren ließ, ehe er sich selbst zu Wort meldet.

    Nur, wer noch niemals eine gefüllte Fußballkabine gesehen hat, wundert sich ernsthaft darüber, dass sich Teile der Mannschaft als „Kanaken“ und „Kartoffeln“ bezeichnen. Basisdemokratische Diskussionen gibt es höchstens bei der Auswahl der Playlist für den Fitnessraum. Dass sich Jerome Boateng und Mats Hummels in der Freizeit eher weniger zu sagen haben: egal. Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann verband lediglich eine gegenseitige Abneigung. Sie wurden zusammen Weltmeister.

    Löw sagt: Es gab keine Grüppchenbildung

    Löw widerspricht denn auch, dass die Mannschaft in Grüppchen zerfallen wäre. Allerdings habe sich eben auch nicht jener Teamgeist eingestellt, den er sich selbst gewünscht hätte. Auch dafür übernimmt er die Verantwortung. Und würde er darauf angesprochen, dass das Leitungswasser im Mannschaftshotel vo Watutinki einen zu hohen pH-Wert hatte: Löw würde nun dafür geradestehen.

    Wie befreiend ein Schuldeingeständnis ist, weiß man in der katholischen Kirche schon lange. Mit dem Ablasshandel entstand ein ganzer Wirtschaftszweig. Wirkliche Begnadigung gibt es im Fußball aber nur im Erfolgsfall. Er wisse, „dass er unter Druck steht“, sagt Löw. Das vom DFB ausgesprochene Vertrauen könnte schon bei einer krachenden Niederlage nächste Woche Donnerstag gegen Weltmeister Frankreich aufgebraucht sein.

    „Es ist mir nicht gelungen, ihn ans Telefon zu bekommen“: Joachim Löw über seinen bisherigen Spieler Mesut Özil.
    „Es ist mir nicht gelungen, ihn ans Telefon zu bekommen“: Joachim Löw über seinen bisherigen Spieler Mesut Özil. Foto: Christian Charisius, dpa

    Es wird die erste Partie ohne Mesut Özil sein. Einen Spieler, den Löw als einer der besten der „letzten 20, 30 Jahre“ bezeichnet. Özil ist es aber auch, von dem Löw menschlich am meisten enttäuscht ist. Nicht wegen der Erdogan-Bilder. Das Thema habe man natürlich unterschätzt (Schuldeingeständnis!). Özil hat seinen Berater bei Löw anrufen lassen, um diesen vom Rücktritt zu informieren. Danach habe der Bundestrainer es einige Male versucht, Özil zu erreichen. „Es ist mir nicht gelungen, ihn ans Telefon zu bekommen.“ So endet ein langer gemeinsamer Weg in der Sprachlosigkeit. Özil hat aus eigenem Antrieb jenen Kreis verlassen, der von den Verantwortlichen gerne als DFB-Familie bezeichnet wird. Familie kann gnadenlos sein.

    Eine Konsequenz der Weltmeisterschaft ist, diese Familie zu verkleinern. „Manchmal ist weniger mehr“, sagt Löw dazu. So werden sich künftig drei statt vier Physiotherapeuten um die Spieler kümmern. Der zurückgetretene Mannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt wird aus dem Pool der bislang helfenden Mediziner ersetzt, ein Mitarbeiter der Pressestelle hat den DFB verlassen. „Sie haben alle gute Arbeit geleistet“, kommentiert Bierhoff die Maßnahme. Mit Thomas Schneider ist auch ein Co-Trainer seinen Status als enges Familienmitglied los. Er ist künftig für das Scouting zuständig, soll also Gegner und Spieler beobachten. Allerlei kleinere Korrekturen, wie auch bei der Zusammenstellung des Kaders für das Spiel gegen Frankreich. Bis auf die zurückgetretenen Mario Gomez und Mesut Özil fehlt von den prominenten Namen lediglich Sami Khedira. Dafür hat Löw drei Neulinge nominiert. Ein Neuanfang light. Für eine wirkliche Revolution fehlt es dem deutschen Fußball aber auch an herausragenden Talenten. Hier wurde der Trend zur Individualisierung verschlafen und munter Generalisten ausgebildet. Fast jeder Nachwuchsspieler kann auf vielen Positionen gut spielen, aber kaum einer überzeugt vollkommen als Außenverteidiger oder Mittelstürmer. Bis dieses Problem behoben ist, wird Löw aber wohl nicht mehr Bundestrainer sein – unabhängig von dem Spiel gegen Frankreich.

    Die Fans sollen wieder Spaß haben

    109 Minuten lang breiten Löw und Bierhoff aus, was schief lief, was besser werden soll. Damit auch die Fans wieder Spaß haben. Schon vor der WM haben sich die Anhänger weniger enthusiastisch gezeigt als noch vor einigen Jahren. Auch, weil sie sich nicht mehr mit der Mannschaft identifizieren konnten. Nicht etwa, weil dort Multimillionäre kickten. Das ist schon länger der Fall. Es ist das Motto #zsmnn (von Bierhoff „Claim“ genannt) oder die allgegenwärtige Bezeichnung „Die Mannschaft“, mit der manch einer nur wenig anfangen kann. Bierhoff hat diese Kritik vernommen. Hat er sie verstanden? Er wolle jedenfalls mit „verschiedenen Stakeholdern“ sprechen, ehe eine Entscheidung fällt. Man könnte auch sagen: Expertenmeinungen einholen.

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    Zwei Monate haben nicht gelangt, um sich eine abschließende Meinung zu bilden. 109 Minuten reichen nicht, um Fußball-Deutschland zu überzeugen. Der wirklich schwierige Teil hat jetzt erst angefangen. Vielleicht bleibt es bei einem Anfang.

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