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Analphabetismus: Jeder siebte Erwachsene ist fast Analphabet

Analphabetismus

Jeder siebte Erwachsene ist fast Analphabet

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    7,5 Millionen Deutsche können nur unter größter Anstrengung lesen und schreiben. Weitere 300000 Mitbürger können nicht einmal ihren Namen korrekt schreiben. Jetzt will die Politik etwas tun – aber ist es genug?
    7,5 Millionen Deutsche können nur unter größter Anstrengung lesen und schreiben. Weitere 300000 Mitbürger können nicht einmal ihren Namen korrekt schreiben. Jetzt will die Politik etwas tun – aber ist es genug? Foto: Jens Büttner, dpa

    20 Jahre lang hat Dieter M. als Vorarbeiter in einem Warenlager gearbeitet. 3000 Artikel gab es dort, jeder mit einer vier- bis fünfstelligen Kennzahl. Dieter M. wusste sie alle auswendig. Dass er kaum lesen und schreiben konnte, hat in all der Zeit niemand gemerkt. Es flog erst auf, als seine Firma schloss und er zum Arbeitsamt musste. Heute arbeitet Dieter M. als Mechaniker und klärt andere über sein Problem auf. Er will Analphabeten vor dem Versteckspiel bewahren.

    Jeder siebte Deutsche im erwerbsfähigen Alter teilt sein Leid. Die Betroffenen können zwar einzelne Wörter lesen oder schreiben, mit zusammenhängenden Texten aber sind sie überfordert – und oft vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. „Funktionaler Analphabetismus“, heißt das unter Fachleuten. Probleme ohne Ende, heißt das für Betroffene. Es gibt sie in allen Bildungsschichten, Männer häufiger als Frauen. Das hat eine Studie der Universität Hamburg ergeben. Fast 57 Prozent der 7,5 Millionen Teil-Analphabeten gehen demnach zur Arbeit. Der größte Anteil findet sich unter Hilfskräften in Bau, Gastronomie und in Büros, im Transportwesen und bei Hausmeistern.

    Kaum einer nutzt die Kurse

    Zwar gibt es Kurse, in denen Erwachsene Lesen und Schreiben lernen können, doch aus Scham nimmt nur ein Bruchteil der funktionalen Analphabeten daran teil. Schlimmer noch: Das Problem „vererbt“ sich weiter. Wer die Kulturtechniken Lesen und Schreiben nicht beherrsche, „der hat nicht nur selbst Nachteile“, erklärt CDU-Bundesbildungsministerin Johanna Wanka. „In der Regel haben es auch die Kinder schwerer.“ Deshalb hat Wanka jetzt die sogenannte Dekade der Alphabetisierung ausgerufen.

    In den kommenden zehn Jahren will der Bund 180 Millionen Euro investieren, um den Analphabetismus in Deutschland in den Griff zu bekommen. Dieser ist nicht nur ein persönliches Problem für die Betroffenen, sondern reißt auch eine riesige Lücke in die deutsche Wirtschaftsleistung.

    Dieter Dohmen, Gründer des Berliner Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie, FiBS, erklärt: „Berechnungen der Bundesagentur zufolge kostet die Arbeitslosigkeit im Jahr 17 Milliarden Euro.“ Fast 32 Prozent der Arbeitslosengeld-Empfänger wiederum haben große Lese- und Schreibprobleme. Denn wer nicht richtig lesen kann, schafft wenn überhaupt nur einen mäßigen Schulabschluss und findet später oft keinen Job.

    „Hier geht der Wirtschaft großes Potenzial verloren“, sagt Bildungsforscher Dohmen. Kultusministerin Wanka will nun mit ihrer Initiative erforschen lassen, wo Lese- und Rechtschreibschwächen begründet liegen, und mit „passgenauen Lernangeboten gegen Analphabetismus vorgehen“. Wie konkret das geschehen soll, lässt sie bislang offen.

    Experte: Problem wird weggeschoben

    Dohmen sieht die Pläne schon jetzt nahezu als gescheitert an: „Ich gehe davon aus, dass das Geld auch jetzt wenig bewirkt.“ Das gesamte Bildungssystem sei nicht darauf ausgerichtet, sich um die Betroffenen zu kümmern. Viel zu lange habe man das Problem „weggeschoben“. Tatsächlich war das Entsetzen groß, als vor fünf Jahren die Studie der Universität Hamburg erschien: Jahrelang hatte die Politik mit nur halb so vielen Analphabeten in Deutschland gerechnet. Doch selbst danach habe sich politisch wenig getan, kritisiert Dohmen. Es helfe nicht, hier und da einen Kurs zu bewilligen. „Wer langfristig etwas ändern will, muss schon bei den Kindern anfangen.“ Dohmen denkt etwa an Computer- und Handygames, die Kinder und Jugendliche an die Problematik heranführen. Er will mehr Unterstützung für Firmen, die Menschen mit Analphabetismus eine Chance geben. Und er fordert Lernkurse, die Betroffene in ihren Alltag integrieren können und die nicht nur vormittags bei der Volkshochschule stattfinden. Tatsächlich besuchen derzeit überproportional viele Analphabeten ohne Job die Lernkurse – oft, weil ihre Schwäche beim Gang zum Arbeitsamt erst entdeckt wird. So wie bei Dieter M.

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