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Analyse: Deutschlands Rolle in der EU: Vom Krösus zum Bittsteller

Analyse

Deutschlands Rolle in der EU: Vom Krösus zum Bittsteller

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    Robert Habeck (r., Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, besichtigt während seines Besuchs in der VNG Gasspeicher GmbH einen Kavernenspeicher.
    Robert Habeck (r., Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, besichtigt während seines Besuchs in der VNG Gasspeicher GmbH einen Kavernenspeicher. Foto: Soeren Stache, dpa

    Es klang fast ein wenig resigniert, was der slowakische Wirtschaftsminister jüngst am Rande des EU-Gipfels sagte. Es ging, wie könnte es auch anders sein, um den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die drohende Energieknappheit. „Wenn Deutschland Gas sparen möchte, dann möge es doch bitte seine Atomkraftwerke weiterlaufen lassen - beziehungsweise die drei, die letztes Jahr abgeschaltet wurden, die könnten ja wieder ans Netz gehen“, sagte Richard Sulík. Mit dem Weiterbetrieb von sechs AKW, so rechnete er vor, könnten 15 Milliarden Kubikmeter Gas gespart werden. Dies sei die Hälfte der Menge, die die EU mit ihrem Gassparplan einsparen wolle.

    Und der hat es in sich: Um 15 Prozent soll der nationale Gaskonsum im Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. März 2023 freiwillig gesenkt werden. Es ist allem voran ein Signal der Solidarität - denn es ist vor allem Deutschland, das vor dem Winter bibbern muss. Frankreich kann russisches Gas durch LNG-Terminals mit Flüssiggas ausgleichen, Polen hat sich ohnehin schon unabhängig gemacht vom mächtigen Mann im Kreml, Italien besorgte sich Gas in Algerien und Spanien machte zumindest unmissverständlich deutlich: „Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir Spanier in Sachen Energieverbrauch nicht über unsere Verhältnisse gelebt.“

    Deutschland profitierte von der Griechenland-Rettung

    Für Deutschland ist die neue Rolle ungewohnt: vom Krösus zum Bittsteller. Bislang war es meist Berlin, das den Daumen gehoben oder gesenkt hat, wenn andere europäische Partner in Not geraten waren. So wie Griechenland, das vor mehr als zehn Jahren nur knapp an der Staatspleite vorbeischrammte. Bis heute ist der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine Reizfigur in Athen, zwang er den Menschen doch einen harten Sparkurs auf. Tatsächlich hat Deutschland von den Milliardenhilfen für Griechenland finanziell sogar profitiert. Seit dem Jahr 2010 flossen Milliarden an Zinsgewinnen in den Bundeshaushalt. Vor allem Gewinne aus Ankäufen griechischer Staatsanleihen sind demnach dem Bundeshaushalt überwiesen worden. In Griechenland ist das nicht vergessen. In Osteuropa erinnert man sich vor allem daran, dass seit vielen Jahren die Bedenken wegen der Abhängigkeit von russischer Energie einfach beiseite gewischt worden war. Die Pipeline Nord Stream 2 stand immer wieder im Zentrum der Kritik – doch Berlin hielt unbeirrt an ihr fest.

    Nicht zuletzt der Krieg gegen die Ukraine sorgte weiter für Verdruss. „Die deutsche Politik war egoistisch, und wir alle zahlen heute einen Preis dafür, dass Deutschland de facto Russland zu diesem Vorgehen ermutigt hat“, sagte der polnische PiS-Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk kürzlich in einem TV-Interview. Der Ringtausch, bei dem Deutschland Kampfpanzer an Polen als Ersatz für dessen Waffenhilfe an die Ukraine abgeben soll, verläuft mehr als schleppend und bringt die Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht abermals in die Defensive.

    Einer, den die aktuelle Entwicklung kaum überrascht, ist Manfred Weber. Als Chef der mächtigen Europäischen Volkspartei (EVP) weiß er um die Vorbehalte gegenüber Deutschland, kennt das schwierige Ringen um Kompromisse aus vielen Krisen-Situationen. "Deutschland ist dringend auf europäische Solidarität angewiesen", sagt Weber unserer Redaktion. Kaum ein Land sei so abhängig vom russischen Gas wie Deutschland. "Die europäischen Partner erwarten jedoch, dass Deutschland alle Energiereserven selbst aktiviert und erst dann um Hilfe bittet", sagt der Europapolitiker. Sein Eindruck ist: "Ein Abschalten deutscher Kernkraftwerke in Krisenzeiten versteht in der EU kein Mensch." Auch er erhöht den Druck auf Berlin, die Bundesregierung müsse jetzt endlich für Klarheit sorgen, mahnt Weber. Es brauche eine sachliche Debatte. Seine Forderung ist klar: "Noch vor einigen Wochen wurden von Ampel-Vertretern ein Weiterbetrieb kategorisch ausgeschlossen mit dem Argument der Sicherheit", sagt der CSU-Abgeordnete. "Jetzt geht es plötzlich doch - da erwarte ich mir von der Regierung mehr Faktenbasiertheit."

    Deutschland ist das wirtschaftliche Schwergewicht

    Sollte Europa im Winter dennoch Energie-Solidarität zeigen, hat das einen schlichten Grund: Strauchelt die größte Volkswirtschaft der EU, könnte das auch anderen Ländern massiv schaden. Erst im Mai zeigte eine Studie des Schweizer Prognos-Instituts: Deutschlands Importe schaffen in den anderen EU-Staaten pro Jahr rund 290 Milliarden Euro an Wertschöpfung und sichern dort etwa 4,7 Millionen Arbeitsplätze. Die deutsche Wirtschaft sei wichtig als Zugpferd für die EU - vor allem für die Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa. Polen, Tschechien, Österreich und Ungarn verkauften rund 30 Prozent ihrer Ausfuhren nach Deutschland. In Polen, Österreich und Tschechien hingen jeweils sechs Prozent der Arbeitsplätze an der Nachfrage aus Deutschland, in Ungarn und in der Slowakei fünf Prozent.

    Mario Draghi, Ministerpräsident von Italien, Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wollten die EU in die Zukunft führen. Nun ist Draghi zurückgetreten und Macron innenpolitisch geschwächt.
    Mario Draghi, Ministerpräsident von Italien, Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wollten die EU in die Zukunft führen. Nun ist Draghi zurückgetreten und Macron innenpolitisch geschwächt. Foto: Ludovic Marin, dpa

    Deutschlands Verletzlichkeit kommt indes zu einem ungünstigen Zeitpunkt: In Italien ist gerade die Regierung geplatzt, in Frankreich kämpft ein massiv geschwächter Macron, die Briten ringen immer noch mit der EU um Brexit-Details, auf dem Balkan rumort es – Europa bräuchte gerade jetzt eine Führungsnation, die stark genug ist, den Laden zusammenzuhalten. Denn eines ist zu befürchten: Je länger die Krise dauert, umso stärker dürften die Fliehkräfte werden. Durch die Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank werden sich zwar in Deutschland die Sparer freuen können – doch für viele andere europäische Länder wird es schwieriger, ihre Schulden zu bezahlen. Schon raunt es aus vielen Ecken von einer neuen Euro-Krise. Führungspersonal, das nur noch verwaltet, anstatt aktiv zu gestalten, ist da eine heikle Sache. Von Bundeskanzler Olaf Scholz indes sind bislang keine Anzeichen zu erkennen, dass er sich dieser Aufgabe stellen will.

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