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Hänsel und Gretel: Finger weg von zu viel Süßigkeiten!

Hänsel und Gretel

Finger weg von zu viel Süßigkeiten!

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    Cathrin Lange zeichnet die Gretel mit kecken Tönen als leicht burschikoses Wesen, während Stephanie Hampl dem Hänsel einen Hauch sympathischer Begriffsstutzigkeit mitgibt.
    Cathrin Lange zeichnet die Gretel mit kecken Tönen als leicht burschikoses Wesen, während Stephanie Hampl dem Hänsel einen Hauch sympathischer Begriffsstutzigkeit mitgibt. Foto: A.t. Schaefer

    Ist sie grausig oder doch bloß märchenhaft, diese Geschichte von Hänsel und Gretel? Zumutbar für Kinder oder brandgefährlich für kleine Seelen? Darüber gehen die Meinungen auseinander, und auch Opernhäuser zeigen, wenn sie Engelbert Humperdincks Vertonung auf die Bühne bringen, wie sehr verschieden man den Stoff verstehen kann – mal als szenische Zuckerbäckerei, mal als Pädophilen-Story.

    Aron Stiehl, Regisseur der Neuinszenierung von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ am Theater Augsburg, beschreitet einen Mittelweg – seine szenische Einrichtung ist verspielt-poetisch, ohne betulich zu sein, und unumwunden deutlich unter Verzicht auf Schock-Effekte. Gewiss, die Oper, 1893 uraufgeführt, ist primär ein Erwachsenen-Stück; aber seit jeher auch beliebt bei Kindern – worauf Theater natürlich schielen, wenn sie den Dreiakter traditionsgemäß zur Vorweihnachtszeit auf den Spielplan setzen.

    In der Augsburger Neuproduktion stellt sich die Behausung der armen vierköpfigen Besenbinderfamilie als kleiner Wohnwagen dar: beengte Verhältnisse. Und wenn die Geschwister Hänsel und Gretel in den Kühlschrank schauen, dann ist da zum Sattwerden nichts drin. Regisseur Stiehl und sein Team (Simon Holdsworth, Bühne; Dietlind Konold, Kostüme) zeigen in stimmigen Details die Chiffren prekärer sozialer Existenz, in welcher der Vater (Dong-Hwan Lee mit gewohnt sattem Bariton) sich noch den Gemütsmensch erhalten hat, während sich bei der Mutter (Irmgard Vilsmaier mit robustem Mezzo) die Zermürbung schon in Aggression umzuwandeln beginnt.

    Verständlich, dass solch ein Milieu ein Nährboden für Sehnsüchte ist. Man erfährt es im zweiten Akt, als Hänsel und Gretel sich im Wald verirren. Simon Holdsworth hat hier ein grünes Dickicht aus züngelnden Akanthus-Blättern geschaffen, in das auch einige Fleischfresserpflanzen hineinragen – Vorausdeutung auf die reale Klappfalle, die bald hinter den Kindern zuschnappt. Erst einmal aber haben Hänsel und Gretel ihren Traum: Es ist nicht, wie bei Humperdinck, die Vision einer beschützenden Transzendenz in Gestalt von Engeln – nein, hier träumen die Kinder rührend irdisch vom Konsum, von Geschenkpaketen und Süßigkeitenüberfluss.

    Das Hexenhaus als Kiosk-Pilz

    Doch wer sich uneingeschränkt bedienen kann in der Warenwelt, darauf läuft es bei Stiehl am Ende hinaus, der begibt sich in Gefahr. Das wird recht augenfällig vorgeführt: Das Hexenhaus ragt plötzlich im Wald hervor als Kiosk-Pilz, der die Kinder nicht nur wegen seiner Disney-Buntheit magisch anzieht, sondern auch, weil es hier Süßes auf Abgreifhöhe gibt. Die Hexe, zunächst liebreizend in ihrer Omi-Aufmachung, zeigt schnell ihr wahres Gesicht und mästet Hänsel mithilfe eines Riesen-Spritzbeutels. Und am Ende der zauberischen Schreckens-Backwerkstatt glüht rot die Monster-Mikrowelle.

    Dass die Konsumverführungen unserer Zeit eine Prüfung für alle Hänsel und Gretel dieser Welt darstellen, ist der Kern des Inszenierungskonzepts. Die szenischen Mittel, mit denen Stiehl das zeigt, sind von eher zurückhaltender Art – man hätte sich manches psychisch-analytischer, durchaus auch hintergründiger vorstellen können, so wie es dem Regisseur vor einigen Jahren in Augsburg mit seiner Inszenierung von Chabriers „L’étoile“ gelang. Aber vielleicht hat Stiehl das diesmal bewusst nicht getan mit Blick auf die zu erwartenden Kinder-Zuschauer, womöglich auch eingedenk des Diktums des Psychologen Bruno Bettelheim, wonach ein Märchen seine Botschaft nie offen aussendet, sondern verdeckt mitteilt.

    "Hänsel und Gretel" - ein höchst lebendiges Protagonisten-Duo

    In Augsburg ist die Hexe kein Mezzosopran, sondern ein Tenor: Christopher Busietta, der genussvoll seine schändliche Hexen-Lust entfaltet und dankenswerterweise nie in Versuchung gerät, stimmlich zu überzeichnen. Wunderbar frisch das gar nicht TV-knuddelige, sondern irritierend koboldhafte Sandmännchen von Samantha Gaul, die gleichermaßen silberfein auch das auf Mary Poppins getrimmte Taumännchen singt. Cathrin Lange zeichnet die Gretel mit kecken Tönen als leicht burschikoses Wesen, während Stephanie Hampl dem Hänsel einen Hauch sympathischer Begriffsstutzigkeit mitgibt. Ein höchst lebendiges Protagonisten-Duo, dessen agile, schimmernde Sopran- und Mezzo-Stimmen sich im berühmten „Abendsegen“ auf betörende Weise mischen.

    Lancelot Fuhry nimmt der Partitur alles allzu Wagner-Schwere, aber auch zopfige Volkslied-Seligkeit ist nicht seine Sache. Und doch lässt Augsburgs 1. Kapellmeister die Philharmoniker romantisch-innig blühen, wo Waldweben und Besinnlichkeit gefordert sind. An anderer Stelle sorgt er durch geschärfte Artikulation für gebotenen Kontrast (Hexen-Motivik) und gibt dem Geschehen immer wieder neue Tempo-Impulse. Fuhry, gegenwärtig kommissarischer Augsburger Generalmusikdirektor, ist das Kraftzentrum dieser Opernproduktion, deren Premiere einhellig beklatscht wurde.

    28. Oktober sowie 13., 15., 21. und 30. November. Kartentelefon: 0821-3424900

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