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Bertolt Brecht: BB der Eifersüchtige? Ein Blick auf Bertolt Brechts Gedicht "Über die Schminke"

Bertolt Brecht

BB der Eifersüchtige? Ein Blick auf Bertolt Brechts Gedicht "Über die Schminke"

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    Bertolt Brecht mit seiner Frau Marianne Zoff. Die Aufnahme stammt etwa aus dem Jahr 1922. Drei Jahre später begann Brecht, seine "Augsburger Sonette" zu schreiben.
    Bertolt Brecht mit seiner Frau Marianne Zoff. Die Aufnahme stammt etwa aus dem Jahr 1922. Drei Jahre später begann Brecht, seine "Augsburger Sonette" zu schreiben. Foto: Suhrkamp Verlag

    Die "Augsburger Sonette" Brechts entstanden zwischen 1925 und 1927. Manche gelangten, vermutlich wegen ihres direkten sexuellen Inhalts, erst in den frühen 80er-Jahren an die Öffentlichkeit. Die meisten sind in Augsburg entstanden. Der Titel weist aber auch auf Brechts hier verbrachte Zeit und sein Umfeld, selbst wenn sich dies nicht gleich erschließt. So in "Über die Notwendigkeit der Schminke". Es werden zwei Arten von Frauen vorgeführt, denen Brecht jeweils zwei Strophen widmet

    Brechts Gedicht "über die Notwendigkeit der Schminke"

    In den beiden ersten geht es um "bürgerliche" Frauen und deren Doppelmoral. Als ob sie sich für ihre Begierde schämten, verbergen sie sorgsam ihren "Schoß", durch "züchtige" Kleidung, durch ihren Habitus. Ihr Gesicht jedoch ist offen zu sehen, und es lädt die – beliebigen – Herren ein, ihnen Avancen zu machen. Zum Sexualakt kommt es dann rasch und offenbar unkompliziert, wobei den Männern eine aggressive Rolle zugeschrieben wird. Sie fassen die Frauen "hart an" an, auf die Schnelle irgendwo draußen auf der Straße, in einer Gasse, an einer Mauer. Die Frauen schließen die Augen und schaudern: vor Entsetzen des Tabubruchs der Gesellschaft und – möglicherweise – dem Ehemann gegenüber oder aus Wollust? Beides ist denkbar. 

    Bertolt Brecht: Über die Notwendigkeit der Schminke

    Die Frauen, welche ihren Schoß verstecken 

    Vor aller Aug gleich einem faulen Fisch 

    Und zeigen ihr Gesicht entblößt bei Tisch 

    Das ihre Herren öffentlich belecken 

    Sie geben schnell den Leib dem, der mit rauher 

    Hand lässig ihnen an den Busen kam 

    Schließend die Augen, stehend an der Mauer 

    Sehen sie schaudernd nicht, welcher sie nahm. 

    Wie anders jene, die mit leicht bemaltem Munde 

    Und stummem Auge aus dem Fenster winkt 

    Dem, der vorübergeht, und sei es einem Hunde 

    Wie wenig lag doch ihr Gesicht am Tage! 

    Wie höflich war sie doch, von der ich sage 

    Sie muß gestorben sein: sie ist nicht mehr geschminkt. 

    (© Bertolt-Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag)

    Die zweite Hälfte des Gedichts widmet sich einer Prostituierten, die keinen Spaß am Sexualakt hat, sich jedoch davon ernährt. Im Gegensatz zu den "Bürgerfrauen" ist ihr Gesicht verborgen, geschminkt, ihre Augen sind "stumm", wie erloschen, nicht lasziv und einladend. Auch ihr ist es egal, wer daherkommt. Sie kann nicht wählerisch sein. Routiniert, "höflich" ist ihr Umgang mit den Freiern. 

    Die Analyse des Gedichts von Brecht führt nach Augsburg

    Die einen also tun züchtig und gieren offen nach Sexualität, die anderen geben den Schoß bereitwillig hin und verbergen ihre Persönlichkeit. Dass die Prostituierte am Schluss gestorben und nicht mehr geschminkt ist, mag auf ihren Erfolg im Geschäft deuten. Entweder sie konnte Geld sparen oder einen Mann finden, jedenfalls ist sie der gesellschaftlichen Herabwürdigung entronnen. Anders ausgedrückt: Sie hat die Seite, die Ebenen gewechselt, ist in die erste Hälfte des Gedichts „aufgestiegen“.

    Eine andere Lesart des Schlusses eröffnet sich, wenn man einen genaueren Blick auf das Augsburger Umfeld wirft, hier auf den Kosmos der Operngeschichte, zu dem Brecht nicht nur eine Affinität, sondern auch eine besondere Nähe über die Opernsängerin Marianne Zoff, seine spätere erste Frau, hatte. 1892 wurde Ruggero Leoncavallos "Pagliacci" uraufgeführt, eine der bekanntesten Opern des Verismo. Zur Beliebtheit des Einakters trug bei, dass die Arie "Vesti la giubba e la faccia infarina" (Schlüpf in den Mantel und schmink dein Gesicht) eines der Paradestücke des Tenors Enrico Caruso war. 1902, 1904 und 1907 wurde die Arie mit dem berühmten Tenor eingespielt und als Tonträger millionenfach verkauft. Caruso starb etwa vier Jahre vor der Entstehung des Brecht-Gedichts. Seine Beisetzung gehört zu den aufsehenerregendsten dieser Jahre. In der Arie "Vesti la giubba" geht es um einen verzweifelten, zu Tode betrübten Clown, der bei seinem Auftritt hinter der Schminke sein wahres Gesicht verbirgt – für Geld! Ebenso wie Brechts Prostituierte die Schminke als Maske einsetzt und sich den Mund bemalt. 

    Marianne Zoff sang in Mascagnis "Cavalleria rusticana"

    Das sind markante Entsprechungen. Allerdings finden sich zwischen Arie und Gedicht keine direkten philologischen Abhängigkeiten. Über die Popularität der Arie und der Carusos hinaus gibt es jedoch einige Fakten, die die Vermutung, dass "Vesti la guibba" Brechts Gedicht angeregt haben könnte, nahelegen. Brecht nämlich kannte sich mit dem operngeschichtlichen Kontext so gut aus, dass er sogar Geraldine Farrar, eine der bekanntesten Bühnenpartnerinnen Carusos, in einem Gedicht zum Synonym Marianne Zoffs macht. 

    Noch etwas kommt hinzu: Marianne Zoff sang am Stadttheater am 30. September 1919 in Pietro Mascagnis "Cavalleria rusticana", neben dem Tenor Otto Wolf, der für die Premiere eigens vom Nationaltheater in München engagiert wurde. Dann trat sie noch mehrmals in dieser Oper auf, um genau zu sein am 5., 10., 17. und 30. Oktober und nochmals am 28. Dezember. Es handelt sich gleichfalls um einen Einakter. Er wird bis heute stets gemeinsam mit Leoncavallos "Pagliacci" aufgeführt – so auch damals in Augsburg. Brecht, der in dieser Zeit bei Auftritten seiner späteren Frau regelmäßig zugegen und zudem Theaterkritiker für die USPD-Zeitung Volkswille war, kannte „Pagliacci“ also. Er hörte die Oper mit der durch ihr Espressivo herausstechenden Tenor-Arie, die bei der Premiere sogar von einem prominenten Sänger gesungen wurde, vielleicht sogar mehrmals. 

    Ein Gedicht von Brecht über die Gesichter hinter der Schminke

    Folgt man der Annahme, dass "Vesti la giubba" Brecht zu dem Gedicht angeregt hat, ergibt sich ein anderes Bild: Die Prostituierte nämlich wäre nicht sozial aufgestiegen, sondern tatsächlich "gestorben": in ihrem Unglück verkümmert, ihre Persönlichkeit zugrunde gegangen unter der Schminke, unter dem lachenden Mund, der keiner ist. Eine künstliche "gute Miene zum bösen Spiel" machte sie, bis sie daran zerbrach. Nun ist sie nicht mehr geschminkt. Nun "liegt ihr Gesicht zutage" – das einer geschundenen Frau, die ein tragisches Ende nahm; so wie auch der Clown der Oper, der seine Geliebte und deren Liebhaber ersticht und in Verzweiflung versinkt. 

    Es bleibt dem Leser überlassen, für welche Deutung des Schlusses er sich entscheidet. 

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