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Bayern: Essen ohne Ende: Zahl der Patienten mit Essstörungen steigt

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Essen ohne Ende: Zahl der Patienten mit Essstörungen steigt

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    Mareike Wunder geht es gut. Neuer Job, neue Stadt, neue Wohnung, alte Liebe. Eigentlich geht es ihr so gut wie lange nicht. Und irgendwie dann aber doch nicht. Regelmäßig überkommen die 30-Jährige wahre Fressattacken. Dann hat sie plötzlich unglaubliche Lust auf Essen und kann diese auch nicht bändigen. „Ich kann dann einfach nicht aufhören“, erzählt die junge Frau aus Augsburg. Oft ist es ihr geliebtes Müsli, das sie dann schüsselweise und ungebremst in sich hineinschaufelt. An anderen Tagen sind es Kekse, Pizza, Schnitzel. Was eben gerade zu greifen ist. Wunder isst, bis ihr übel ist. Danach bricht sie regelmäßig weinend zusammen. Aus Ärger über sich selbst. Aus Angst vor den Folgen. Aus Scham ihren Mitmenschen gegenüber. Und aus Hilflosigkeit.

    Mareike Wunder, die ihren echten Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will, ist eine von unzähligen Frauen, die unter Essstörungen leiden. Dazu zählen Magersucht, Bulimie oder der unkontrollierte Heißhunger, wie ihn die Augsburgerin regelmäßig überkommt. Laut Techniker Krankenkasse mussten in Bayern im Jahr 2015 rund 3000 Patienten wegen eines krankhaften Essverhaltens stationär behandelt werden – was im Vergleich zum Jahr 2005 einen Anstieg von mehr als 40 Prozent bedeutet.

    Der Großteil von ihnen ist weiblich und im Alter von 15 bis 25 Jahren. Und die Patientinnen werden offenbar immer noch jünger. Nach Angaben des bayerischen Gesundheitsministeriums hat sich in besagtem Zeitraum die Zahl der Betroffenen unter 15-Jährigen von 135 auf 265 verdoppelt. Vor allem Magersucht gilt als typische Pubertätserkrankung.

    App soll bei Essstörungen helfen

    In Schwaben finden jedes Jahr rund 100 Menschen mit Essstörungen den Weg zu Klaus Schonath. Schonath ist einer von zwei Sozialpädagogen des Augsburger Ablegers des bayernweit tätigen Therapienetzes Essstörung – einer Einrichtung, die sich zum Ziel gesetzt hat, als Mittler zwischen Krankenhäusern, Ärzten, Therapeuten und Beratern den Patienten die bestmögliche Behandlung zu verschaffen, ohne dass diese „von Arzt zu Arzt“ wandern müssen, erklärt Schonath.

    Mit diesem Ziel klopfte auch Mareike Wunder bei ihm an. Als die Fressattacken im Frühjahr immer häufiger und schlimmer wurden, habe sie gemeinsam mit ihrem Freund beschlossen, sich therapeutische Hilfe zu suchen. Was sie sich selbst nicht erklären konnte, sollten nun Experten für sie herausfinden: Wo liegt das Problem? Und wie kann man es lösen?

    Eine knifflige Aufgabe, wie Pädagoge Schonath zugibt. Um die Ursachen zu finden, soll Wunder seither ganz genau Buch führen. Wann hat sie was gegessen? Wie ging es ihr an diesem Tag? Hatte sie eine Fressattacke? Eine App namens „Jourvie“ soll ihr dabei helfen. Das Programm für das Smartphone wird derzeit laut Techniker Krankenkasse in einer dreimonatigen Pilotphase in Bayern getestet. Mareike Wunder ist von dem digitalen Helfer bislang nur bedingt überzeugt. Die App helfe ihr nicht, die Fressattacken zu verhindern. Möglicherweise sei sie für Magersucht- oder Bulimie-Patienten besser geeignet.

    Auch Klaus Schonath erklärt, dass die App kein Allheilmittel ist, aber eine gute Hilfe. In manchen Fällen könnten mit dem Ess-Protokoll gewisse Zusammenhänge besser erkannt werden. Denn Ursachen für Essstörungen gebe es viele – Vorkommnisse in der Kindheit, Stress, die Gene, das Umfeld. Oftmals kämen auch mehrere dieser Punkte zusammen.

    Wann beginnt eine krankhafte Essstörung?

    Auch bei Mareike Wunder spielen wohl mehrere Dinge eine Rolle. Schon als Jugendliche litt sie unter Panikattacken. „Meine Psyche ist nicht gerade die allerbeste“, sagt sie selbst. Dazu kommt der starke Wunsch nach dem Traumkörper. Wunder ist 1,64 Meter groß, wiegt 44 Kilo. „Das ist in Ordnung“, sagt die 30-Jährige. Um diese Maße zu halten, treibt sie am liebsten sieben Mal die Woche Sport. Oft aus Spaß. Oft aber auch aus Zwang.

    Wenn Klaus Schonath das Wort „Zwang“ hört, gehen bei ihm die Alarmglocken an. Eine krankhafte Essstörung beginne für ihn, wenn der Patient unter seinen Gewohnheiten leide. „Wenn Essen nicht mehr nur eine schöne Nebensache ist, sondern das ganze Leben bestimmt und über die Maßen, dann sollte man sich in Behandlung begeben“, sagt Schonath. Dass offenbar immer mehr Menschen diesen Schritt wagen, findet er wichtig. Dass es fast nur Frauen sind, findet er verwunderlich: „Es gibt so viele Männer, die ebenfalls Essstörungen haben. Aber Männer leiden offenbar lieber leise.“

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