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Bayern: Mein Dorf, meine Liebe: Wenn Jugendliche in der Region bleiben

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Mein Dorf, meine Liebe: Wenn Jugendliche in der Region bleiben

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    "Es ist alles wie früher": Jacqueline Hörmann aus Walkertshofen (Landkreis Augsburg) liebt ihre Heimat.
    "Es ist alles wie früher": Jacqueline Hörmann aus Walkertshofen (Landkreis Augsburg) liebt ihre Heimat. Foto: Axel Hechelmann

    Jacqueline Hörmann reist in die Vergangenheit. Sie schlüpft in ihre weinrote Jacke mit den goldenen Knöpfen und geht durch Walkertshofen. Das ist ihr Heimatort, südwestlich von Augsburg. Die 19-Jährige spaziert an dem mickrigen Grashügel vorbei, den sie damals im Winter mit dem Schlitten hinunterrutschte. Vorbei am Gebüsch mit den roten Hagebutten, in dem sie als Kind Verstecken spielte. Sie bleibt vor der weißen Fassade der Sporthalle stehen, die zur Grundschule gehört, stellt sich auf die Zehenspitzen und schaut durch die große Glasscheibe. Drinnen stehen Turnbänke aus dunklem geölten Holz und ein Parcours aus bunten Pylonen. Sie lächelt und sagt: „Es ist alles wie früher.“

    Wenn die junge Frau mit den blond gefärbten Haaren an diesem Vormittag über ihre Heimat spricht, dann ist das auch eine Reise in die Vergangenheit. Heimat, das bedeutet für sie dieses „Weißt du noch, damals...“-Gefühl. Man kennt das ja, wenn die 90-jährige Oma aus ihrem Leben erzählt. Nur hier erzählt eine 19-Jährige. Von einem Gefühl, das sie seit ihrer Kindheit festhält in Walkertshofen.

    In Walkertshofen treffen sich die Menschen im Schützenverein „Gemütlichkeit“

    Es ist ein grauer Vormittag, und ein Mann kommt aus der Raiffeisenbank. Eine Frau steigt vorsichtig die Treppen in Richtung Hauptstraße hinab, weil auf manchen noch Schnee liegt. Es sind die winzigen, unbedeutend scheinenden Begebenheiten, die das Dorfleben ausmachen. 1113 Menschen leben in der Gemeinde. So steht es auf der Internetseite. Stand: 31. Dezember 2007. Außen rum: Wiesen, Wälder, Wanderwege. Jacqueline Hörmann lebt seit ihrer Geburt in Walkertshofen. In einem Ort, wie es ihn überall in Deutschland gibt. Ein Ort, in dem sich die Menschen im Schützenverein „Gemütlichkeit“ treffen und auf der Straße spazieren können, weil selten ein Auto vorbeifährt. Aber auch ein Ort, der den Wettbewerb um junge Leute manchmal verliert – und manchmal gewinnt, wie bei Jacqueline Hörmann.

    Sie ist also geblieben. Hörmann arbeitet als Fachverkäuferin in einer Bäckerei in einem Nachbarort, hätte sich aber auch für einen Job in Augsburg oder ganz woanders bewerben können. Sie hätte umziehen können, wegen ihres Freundes Paul, der im Landkreis Neu-Ulm wohnt. Aber sie ist geblieben. Geblieben, als sich die Dorfjugend nicht mehr im Bauwagen mit dem schwarzen Ledersofa und dem Ofen traf. Geblieben, als andere in ihrem Alter wegzogen.

    Landflucht: In der Stadt locken Kneipen, Kinos, Klubs

    Landflucht nennen Soziologen dieses Phänomen, das vor allem junge Erwachsene betrifft. Die Stadt lockt sie mit Versprechen auf Arbeitsplätze, eine bessere Infrastruktur, Hochschulen. Und mit Kneipen, Kinos, Klubs. Zuletzt schrieben sich 2,7 Millionen Studenten an einer deutschen Hochschule ein, so viele wie noch nie und 600.000 mehr als vor zehn Jahren. Viele von ihnen packen nach der Schule zum ersten Mal im Leben die Umzugskartons. In einer Stadt wie München gibt es deswegen fast keinen Platz mehr. Auch in Augsburg entstehen neue Häuser, weil die alten nicht mehr ausreichen.

    Währenddessen sterben mit jedem weiteren Karton viele ländliche Regionen aus. Höfe verfallen, Dorfläden schließen. Für die Kommunen besonders schmerzlich ist: Die Jugendlichen verabschieden sich.

    Wie zum Beispiel in Kleinaitingen an der Bundesstraße 12, 30 Kilometer östlich von Walkertshofen. Dort lebten 1987 noch 174 Menschen im Alter zwischen 18 und 25. 2012 waren es noch 94, obwohl die Einwohnerzahl insgesamt stieg. Selbst mit der Ansiedlung großer Logistikzentren wie Lidl und Amazon 2011 stieg die Zahl kaum.

    Es gibt Bauplätze für junge Familien, aber die sind in privater Hand

    Es ist ein Beispiel für ein Phänomen, das es in vielen Orten gibt. In Walkertshofen hat man Glück. Zwischen 1987 und 2012 ist die Zahl der jungen Leute nur um 14 auf 103 gesunken. Auch dort verabschiedet sich mal der eine oder andere. Aber es siedeln sich auch neue Familien an, so weit das möglich ist. Im Moment ist es eher schwierig. Sagt die CSU-Bürgermeisterin.

    Sie heißt Margit Jungwirth-Karl und ist seit einem knappen Jahr die Chefin im Rathaus. Spontan fallen ihr 15 Bauplätze ein, die noch frei sind, aber eben auch in privater Hand. Für die Bürgermeisterin sind es verschenkte Flächen. Sie atmet mehrmals tief durch, während sie erzählt. Und wie will sie die Jungen halten, die schon hier wohnen?

    Sie zählt Argumente auf: In Walkertshofen gibt es einen Bäcker, eine Ärztin, bald vielleicht einen zusätzlichen Bus. Jungwirth-Karl weiß selbst, dass das keine schlagenden Argumente für junge Leute sind. Dann sagt sie: „Dort wo sie ihre Jugend verbracht haben, möchten manche auch bleiben.“ In dem Satz schwingt ein Stückchen Hoffnung mit. Es ist eben schwierig für kleine Gemeinden. Gerade dann, wenn sie in dem Alter von Jacqueline Hörmann sind.

    Der Bus fährt um 18.42 Uhr zum letzten Mal in Richtung Augsburg

    Die steht jetzt an einer Bäckerei gegenüber der katholischen Pfarrkirche St. Alban. Die Rollläden sind unten. „Seit Jahren“, sagt Hörmann. Dann geht sie vorbei an der Bushaltestelle, wo Regionalbus 604 um 18.42 Uhr zum letzten Mal in Richtung Augsburg abfährt. Was für Gäste trostlos aussehen könnte, ist für Jacqueline Hörmann normal. Sie mag ja die Ruhe. Und die Erinnerung. Schon zwei Punkte, die sie an Walkertshofen schätzt.

    Und dann ist da noch die Familie mit Mutter, Vater, Hund Chandu und dem 21-jährigen Bruder Sascha, den Jacqueline ihren „großen Star“ nennt. Einfach, weil er ihr großer Bruder ist. Hinter dem Wort Heimat stecken für Hörmann viele Argumente, um zu bleiben.

    Auch Wilhelm Schmid, 62, kennt das Gefühl, daheim zu sein. Der Philosoph und Bestseller-Autor wuchs im 500-Einwohner-Dorf Billenhausen auf, das heute zu Krumbach gehört. „Heimat ist das, womit ein Mensch sehr vertraut ist“, schreibt er in einer E-Mail an unsere Zeitung, die er von einer Reise in Kopenhagen abschickt.

    Heimat, das kann für manche Menschen auch ein Kartoffelsalat sein

    Schmid, der Heimatmensch, der heute in Berlin lebt, ist in diesen Tagen nur schwer zu erreichen. „Die geliebte Heimat“, schreibt er, das sei auch Kartoffelsalat, „den es nirgendwo anders gibt.“ Doch nicht nur eine Region könne Heimat bedeuten. „Sondern auch die Musik, die geliebten Menschen, die bei einem sind, das kulturelle Angebot.“ Und Rituale. Heiligabend, Fasching, 1. Mai. Oder: Weihnachtsbraten, Clownsmaske, Feste.

    Knapp eineinhalb Autostunden nördlich von Walkertshofen trifft das besonders auf Tobias Eberhardt zu. In Großsorheim bei Harburg im Kreis Donau-Ries legt er einen dicken Stapel auf den Tisch. Ein großes Stück Heimat: T-Shirts mit Sonnenblume, Handtücher mit Sonnenblume, Handzettel mit Sonnenblume. 400 Menschen leben hier. An zwei Tagen im August treffen sich drei- bis fünfmal so viele auf einem Acker neben dem Dorf, wo ein paar hundert Meter weiter Autos über die Bundesstraße 25 rauschen. Am Rand der Partyfläche stehen dann tausende Sonnenblumen, drinnen spielt ein DJ Tanzmusik. Zwei Tage lang Bier, Schweiß, Party.

    39 Prozent der Jugendlichen im Landkreis Augsburg wollen nicht wegzuziehen

    Eberhardt ist monatelang mit den Vorbereitungen beschäftigt. Er sät Rasen und Sonnenblumen, macht Werbung, beschafft Strom, Musik und Getränke. Der 24-Jährige ist seit zehn Jahren Mitglied im Festausschuss des Sunfield-Festivals und seit zwei Jahren hauptverantwortlich dafür. Die Dorfjugend hilft mit und rückt zusammen. Manchen geht es wie Tobias Eberhardt. „Für mich ist es mehr als ein Festival.“ Es ist auch sein Festival. In seiner Heimat.

    Das ist eine eher seltene Definition von Heimat. Für die meisten jungen Leute steht die Familie an erster Stelle, wenn sie erklären, warum sie zu Hause bleiben. So können sich 39 Prozent der Jugendlichen im Landkreis Augsburg nicht vorstellen, für Studium oder Beruf aus der Heimat wegzuziehen, 56 Prozent von ihnen wegen der Familie. Das zeigt eine Umfrage unserer Zeitung unter 336 Teilnehmern zwischen 14 und 25 Jahren. Dahinter liegen mit 49,5 Prozent die Freunde.

    Beides gehört auch für Tobias Eberhardt untrennbar zu seiner Heimat. Aber eben auch das Festival. Doch was nützt es, wenn jemand in seiner Heimat bleiben will, es dort aber keine Arbeit gibt?

    Nehme ich 30 Kilometer zum Arbeitsplatz in Kauf? Wo ist die Schmerzgrenze?

    Im Landkreis Augsburg arbeitet nur noch jeder Sechste in einem Betrieb in seinem Wohnort. Rechnet man Schüler und Studenten mit ein, läge die Zahl noch höher. Die meisten Menschen arrangieren sich damit. Sie steigen in Bus oder Bahn, am häufigsten ins Auto.

    Aber irgendwann stellen sich viele die Frage: Lohnt sich das noch? Nehme ich 30 Kilometer zum Arbeitsplatz in Kauf? Oder 50, oder 70? Wo ist die Schmerzgrenze? Bleibe ich, gehe ich? Was ist mir die Heimat wert?

    Jacqueline Hörmann hat eine Antwort darauf gefunden. Dass sie in Walkertshofen aufgewachsen ist, sei „das Beste, was meine Eltern je für mich getan haben“. Sie sitzt nun am Esstisch im Wohnzimmer, einen Kaffee in der Hand. An den Wänden ist die Brooklyn Bridge aufgemalt, daneben das Empire State Building. Ein bisschen New York in Walkertshofen. Jacquelines Vater Otto jettet als Montageleiter durch die Welt. Er war allein acht Jahre in New York. Auch Jacqueline liebt das Reisen. Amerika, Marokko, Türkei. „Nur in Australien war ich noch nicht.“ Wegen der Spinnen.

    Die Liebe zur Heimat ist nie gewichen - und doch will Hörmann ein Experiment wagen

    Zurückgekommen ist sie immer gerne. Zum Rodelberg, zur Turnhalle, zum Versteck bei den Hagebutten. Nach Walkertshofen eben, wo sie auf so viele Erinnerungen stößt. Wo ihre Familie zu Hause ist. Und wo sie jeden Tag mit dem Auto fährt, weil Regionalbus 604 so selten kommt.

    Ihre Liebe zur Heimat ist nie gewichen. Und doch will sie bald ein Experiment wagen. Ein halbes Jahr noch, dann ist die Ausbildung in der Bäckerei zu Ende. Dann will sie mit Freund Paul in eine Wohnung ziehen, irgendwo in Richtung Neu-Ulm, etwa eine dreiviertel Stunde entfernt, weil Paul dort wohnt. Aber aufs Land, nicht in die Stadt. Und vor allem: nicht für immer.

    Jacqueline Hörmann will zurückkommen nach Walkertshofen, das steht außer Frage. Spätestens, wenn das erste Kind kommt, sagt sie.

    Spätestens.

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