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Interview: Pater Anselm Grün: Ist Weihnachten noch zu retten?

Interview

Pater Anselm Grün: Ist Weihnachten noch zu retten?

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    Vor mehr als fünf Jahrzehnten trat Pater Anselm Grün dem Orden der Benediktiner bei. Heute ist er unter anderem gefragter Redner und Autor.
    Vor mehr als fünf Jahrzehnten trat Pater Anselm Grün dem Orden der Benediktiner bei. Heute ist er unter anderem gefragter Redner und Autor. Foto: Günther Jansen (Archiv)

    Pater Anselm, Denken Sie, dass Weihnachten in diesem Jahr noch zu retten ist?

    Anselm Grün: Von außen betrachtet scheint es schwierig, da die großen Gottesdienste entfallen. Es fordert heraus, über Weihnachten radikal nachzudenken. Was bedeutet es, wenn Gott herabsteigt in meinen persönlichen Stall? Das ist das eine. Das andere: Die Kirchen haben sich in den vergangenen Wochen viele Gedanken gemacht, wie man über die Familie hinaus das Fest feiern kann.

    Ist die aktuell wütende Pandemie nicht auch für jeden einzelnen eine Gelegenheit, Weihnachten neu zu betrachten?

    Anselm Grün: Auf jeden Fall. In den vergangen 100 Jahren ist Weihnachten immer mehr zum Familientag verklärt worden und hat sich dadurch immer mehr vom Kern entfernt. Viele sehnen sich nach einer heilen großen Familie zurück, obwohl die Verhältnisse real ganz anders aussehen. Das wird dieses Jahr nicht möglich sein. Die Zusammenkunft der Verwandten dürfte entfallen. Dafür bekomme ich anderen Besuch. Die Mystik nannte das die Gottesgeburt im Menschen – in jedem Menschen. Jeder verfügt über einen inneren Raum, zu dem die Erwartungen der Welt keinen Zutritt haben. Weihnachten braucht die Stille. Was geschieht in mir, in meiner Seele? Dies wird nur in der Stille hörbar.

    Dann ist die Corona-Pandemie eine Chance für das Spirituelle. Wie halten Sie es persönlich?

    Anselm Grün: Auch wenn man allein ist und keinen Besuch erhält, findet Weihnachten statt. Für mich heißt es, dass ich drei Stunden ohne Gesellschaft bin. Ich lese etwas, höre schöne Musik wie das Weihnachtsoratorium, betrachte Bilder und denke an Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle. Daran hindert uns niemand dran.

    Pater Anselm Grün ist als Mönch ein Profi im Alleinsein

    Als Mönch sind Sie ein Profi im Alleinsein. Als junger Benediktiner haben Sie versprochen, für immer an einem Ort und in einem Kloster zu bleiben.

    Anselm Grün: Bei mir stimmt das nicht ganz. Für meine Vorträge fahre ich viel umher. Aber auf meine Ordensbrüder trifft das wohl zu. Das Bekenntnis zu einem Ort schließt noch etwas ein, nämlich dass wir ihn gut pflegen und so hinterlassen, dass die nächste Generation auch gut leben kann. Unsere Achtsamkeit gilt einem Ort. Dazu kommt die Gastfreundschaft. Wer zu uns kommt, darf Gast sein, er lebt mit uns an diesem Ort. Das praktizieren die Benediktiner schon immer.

    Kloster auf Zeit also. Das muss man erst einmal aushalten.

    Anselm Grün: Der französische Philosoph Blaise Pascal sagte einmal: „Es ist das Übel des modernen Menschen, dass er nicht alleine in seinem Zimmer sein kann.“ Das ist zutreffend. Viele Menschen rufen nach Ruhe. Doch sobald die Ruhe da ist, geraten sie in Panik und suchen neue Ablenkung.

    Was raten Sie einem Menschen, der den Trubel gewohnt ist und gerne viele Leute um sich schart?

    Anselm Grün: Ich schätze Gemeinschaft hoch ein. Aber es kann auch Flucht sein, weil viele umtriebige Menschen es nicht schaffen, alleine zu sein. Einsamkeit und Gemeinschaft sind zwei Pole. Das Ideal aller Familientreffen ist gute Laune und Harmonie. Doch woher soll die gute Stimmung kommen, auf Knopfdruck? Der tiefere Grund des Treffens – das religiöse Ereignis – blieb unbeachtet. Die großen Treffen erfolgen zum Selbstzweck, die große Tafel als Höhepunkt. Das reicht eben nicht.

    Benediktinermönch Anselm Grün gibt Tipps gegen Feiertagsstress

    Haben Sie einen Tipp für Menschen, die aus einem stressigen Alltag von jetzt auf morgen in den Feiertagen landen?

    Anselm Grün: Es kann wichtig sein, nicht zu viel zu erwarten. Wer früh umfangreiche Erwartungen aufbaut, kann schnell enttäuscht werden.

    2020 waren wochenlang die Gotteshäuser geschlossen, Ostern durfte nicht öffentlich gefeiert werden. Die Kirchen gerieten in die Defensive. Wie kommen sie da wieder raus?

    Anselm Grün: Es wäre eine Illusion zu meinen, dass sich die Kirchen nach der Krise wieder füllen. Immer wichtiger sind persönliche Formen des Glaubens in der Familie und für sich. Glauben vollzieht sich nicht nur in der Gemeinde. Glaube ist eine Herausforderung. Er bedeutet, dass man die Dinge mit anderen Augen ansieht.

    Pater Anselm Grün: Neues Buch erscheint im Frühjahr

    Die Glaubensgemeinschaften waren 2020 kreativ. Sie vollzogen technische Sprünge, streamten Gottesdienste, waren digital präsent. Viele Christen vermissten dennoch etwas: eine überzeugende Deutung der Pandemie durch starke Prediger und berührende Worte.

    Anselm Grün: Damit beschäftige ich mich gerade, im Frühjahr kommt mein neues Buch heraus. Ich will Mut machen, dass der Einzelne sich stärker fühlt und Verantwortung auch für seinen Glauben übernimmt. Ich nenne das Selbstermächtigung, die jeden im Alltag stärkt.

    Der Stillstand des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft wurde damit begründet, dass man das alten und vorbelasteten Menschen zuliebe tut. Die Jungen und Gesunden übten sich in Rücksicht. Ist das nicht konkrete Nächstenliebe?

    Anselm Grün: Ja. Die Solidarität, die von der Politik verordnet wurde, war angewandte Nächstenliebe. Das Virus ist ansteckend, aber auch eine positive Stimmung und Haltung kann anstecken. Wir sind verantwortlich füreinander.

    Wenn Sie das zu Ende gehende Jahr bilanzieren müssten, welche Überschrift würden Sie drüber setzen?

    Anselm Grün: Erkennen wir die Zeichen der Zeit! Sie sind ein Anlass zum Umdenken: Was bedeutet Menschsein, was ist Gemeinschaft, wo steht mein Glaube? Wichtig ist, dass wir uns überhaupt diese Fragen trauen und nicht bei alten Antworten stehen bleiben.

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