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Foto: Stefanie Wirsching
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Foto: Stefanie Wirsching

Gudrun Gerum und Bambi.

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Basti und David Wiedemann mit den Hunden.

Sommermärchen
11.08.2018

Und Bambi lebt noch immer in Hechenwang

Von Stefanie Wirsching

Gudrun Gerum rettete einem Kitz das Leben. Dann hüpfte es über den Zaun. Aber verloren ging es nicht. Das Dorf half beim Suchen mit.

Es war einmal eine Bäuerin in einem kleinen Dorf. Und ein Rehkitz, das nichts wusste von den Gefahren dieser Welt. Als es verschwand, suchte die Bäuerin in der Nacht und am Tage. Und immer mehr Menschen kamen, um ihr zu helfen. Als sie es endlich fanden, sprang das Kitz froh in die Arme der Bäuerin. Seitdem ist der Sommer noch schöner als zuvor!

Ein Märchen also. Eines, das an einem Abend Ende Mai beginnt. In einem Ort, den man nur findet, wenn man ihn finden will. Wenn man also auf dem Weg zum Ammersee schon in Windach die Autobahn verlässt, sich durchs Dorf schlängelt und sich oben an der Wegkreuzung für die schmale Straße nach Hechenwang entscheidet, von der Weite dann schon die Kirche mit dem Zwiebelturm sieht. Gebaut im Übrigen 1740 vom Wessobrunner Architekten Joseph Schmuzer. Aber das nur am Rande. Und auch nur am Rande: Sieht ziemlich märchenhaft aus! Aus so einem Dorf zieht man nur weg, wenn man 18 oder 19 Jahre alt ist und einem die eigene Welt fürchterlich klein erscheint. Tut man es dann nicht, bleibt man meist für immer.

Gudrun Gerum, 46, ist geblieben. In Hechenwang, im Hirschwangweg. Auf ihrem Hof. Drei Generationen leben hier, sie und ihr Mann Martin zählen zur mittleren. Irgendwann an diesem Nachmittag, an dem dieses Märchen in allen Facetten erzählt wird, sagt ihre Mutter: „Die Gudrun braucht keinen Urlaub, die braucht ihre Tiere.“ So ein Typ ist sie. Eine, die sich nicht nach dem Meer und dem Strand sehnt, auch nicht nach einem Cappuccino auf einer italienischen Piazza. Weil es zu Hause so schön ist. Weil man auch hier im Sommer seinen Blick in die Ferne verlieren kann, über das dunkle Gold der Weizenfelder hinweg. Und, weil da die Tiere sind. „Ein Zoo“, wie ihre Tochter Bianca, 10, sagt, mit ein bisschen Stolz in der Stimme. Ein Zoo mit Kühen, Eseln, Ziegen, Pferden, Katzen, Hunden, Laufenten, Meerschweinchen und Hühnern.

Zwei kleine Geschichten zu diesem Zoo

Zwei kleine Geschichten nur zu diesem Zoo. Die eine vom Esel Moritz, der sein Zuhause verlassen musste, zu den Gerums kam und da mit der Ziege zusammenleben sollte, aber nicht glücklich wurde. Sondern aggressiv. Da holten die Gerums halt noch einen zweiten Esel, Camillo! Und eine zweite Ziege. Und dann noch die vom Huhn, dem der Marder seine Artgenossen geraubt hat. „Das hieß Günther“, erzählt Bianca, „bis wir gemerkt haben, dass es kein Hahn ist.“ Jetzt heißt es „Frau Henne“, ist auch nicht mehr allein. Keines der Tiere aber braucht Gudrun Gerum so dringend wie das Kitz. Seit jenem Tag Ende Mai, als der Bruder auf den Hof kam, das „Häuferl Elend“ dabei. Am Nachmittag hatte er es am Maisfeld liegen sehen. Am Abend lag es da noch immer. Aber von der Ricke keine Spur. Da hat er es vorsichtig eingepackt und zu Gudrun Gerum gebracht. „Du kriegst es doch hin?“, hat er gesagt.

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Foto: Gerum
Foto: Gerum

Was weiß ein Kitz von den Gefahren dieser Welt?

Ein Rehkitz, das muss man vielleicht sagen, wiegt bei seiner Geburt etwa eineinhalb Kilo. Nach drei Stunden kann es stehen und wagt seine ersten Schritte. Wie alt das Kitz war, als es ihr Bruder brachte? Vielleicht zwei Wochen? Sie kann es nur schätzen. Kleiner als eine Katze sei es gewesen. Und stehen konnte es nicht. Nicht einmal mehr seinen Kopf heben, erzählt Gudrun Gerum, und dass sie sich gedacht habe, das wird heute nacht sterben. So schwach, wie es war, den Kopf schief gelegt, die Nase ausgetrocknet. Eigentlich hatte die Natur schon entschieden. Vielleicht haben sie es deswegen Bambi genannt. Sozusagen ein Allerweltsname für ein Kitz. Einer, der einem auf die Schnelle einfällt. Bambi aber hat die Nacht überlebt. Im Wäschekorb auf einer Decke. Gudrun Gerum hat erst einmal im Internet recherchiert, ihm dann mit einer Spritze Tee mit Elektrolyten eingeflößt. „Hatte ich noch da wegen der Kälber“, am Anfang hat das Kitz nur geleckt, später angefangen zu saugen. Sie hat schon in der Nacht gesehen, wie sich die Waagschale in die andere Richtung neigt. Leben also.

Gudrun Gerum hat ihr Rehkitz aufgezogen

Das ist der erste Teil dieses Märchens, in dem Gudrun Gerum ihrem Rehkitz jeden Tag beim Wachsen zusehen kann, es den Wäschekorb verlässt, anfängt zu laufen, ihr bald auf Schritt und Tritt folgt, beginnt, Ziegenmilch aus der Flasche zu trinken, Bananen und Äpfel zu fressen, an Blättern zu knabbern, den Garten zu erkunden. In dem ihr Mann Martin ihr einen ganzen Haufen Erde an die Wiese kippt, weil Kitze auch Erde als Nahrung brauchen. Als nach Tagen der von Gudrun Gerum verordneten absoluten Ruhe auch die Nachbarn vorbeikommen, um einen Blick auf den neuen Bewohner des Hirschwangwegs zu werfen. Als also alles nach einem Happy End aussieht. Bis dann nach rund sieben Wochen der Tag kommt, an dem die Gerums Heu machen. Und Bambi in einer Schrecksekunde über den Zaun springt …

Vielleicht ist aber der zweite Teil dieses kleinen  Märchens sogar der schönere. Weil er auch etwas Schönes über das Dorf erzählt. Über die Menschen in Hechenwang, die zum Beispiel alle zwei Jahre einen Sommer-Biathlon auf die Beine stellen, Radeln und Schießen, Riesensache. Und dank derer auch der zweite Teil, in dem ein Rehkitz über einen Zaun springt, nichts weiß von den Gefahren dieser Welt, zum Beispiel, dass am Waldrand eine Fuchsfamilie ihr Zuhause hat, in der also auch dieser Teil ein Happy End hat.

An jenem Tag in den Abendstunden verschwand jedenfalls das Kitz. Bis es dunkel war, haben sie gesucht, und Gudrun Gerum ist noch weiter bis tief in die Nacht aufgeblieben, hat auf jedes Geräusch gehört. Es knackte, knirschte, irgendwo schrie ein Tier, der Marder kam vorbei. Nur Bambi nicht. Am Morgen, sobald es hell wurde, war sie wieder auf den Beinen, schaute erst einmal zum Himbeerstrauch – „sein Lieblingsplatz“. Irgendwann dann machte die Nachricht in Hechenwang die Runde, halfen die ersten Nachbarn mit. Ihre Schwester lud vorsorglich Mutterschreie vom Reh aus dem Internet herunter, „aber die kannte es ja nicht einmal.“ Mittags dann kam der Jäger: Basti Wiedemann. Der suchte mit seinem Wachtelhund Afra – vollständiger Name von Rühl –, erstklassiger Stöberhund. Was er gesagt hat, als er zu Gerums ging: „Gudrun, wir finden’s.“ Aber was er dann nicht mehr gesagt hat, ganz und lebend oder eben … Rehkitze hinterlassen übrigens keinen Geruch. Oder nur ganz wenig. Eben damit sie nicht gefunden werden.

Im Garten hat es nun ein eigenes Gehege mit einem Zaun

Afra aber nahm eine Spur auf, die führte ins nächste Weizenfeld. Balu, der bayerische Gebirgsschweißhund seines Bruders David, zog es ebenfalls dorthin. Der Suchtrupp vertraute der alten Jägerweisheit: „Der Hund hat immer recht!“ Der nächste Nachbar kam, flog mit der Drohne übers Feld. Und Gudrun Gerum, schon mit der Flasche voll Milch unterwegs, rechnete immer nach: „Jetzt hat es schon so und so viele Stunden nicht mehr getrunken …“ Irgendwann entdeckten sie das Kitz, wie es wie ein Springbock davongaloppierte. Wie ein fliegender Dackel habe es ausgesehen, erzählt Nachbarin Monika Sievers: „Man hat nur die Ohrenspitzen gesehen.“ Dann war es wieder weg.

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Foto: Sievers
Foto: Sievers

Beim Fototermin hatten nicht alle Helfer Zeit, aber die meisten. Der erfolgreiche Suchtrupp mit Gudrun Gerum (in den Armen Tochter Bianca).

So könnte man jetzt immer weitererzählen, der Geschichte in allen Einzelheiten noch lange zuhören, wie immer mehr Nachbarn kamen, wie sie schließlich zu siebzehnt das Feld durchkämmten, in den Spuren, die der Traktor gezogen hatte, wie die Dämmerung aufzog, wie sie sich eine Taktik zurechtlegten, schließlich: Wie Matthias Wegele, einer aus dem Suchtrupp, Bambi endlich wieder erspähte, es vor ihm heraushupfte, er laut rief: „Gudrun, Gudrun, da ist es!“ Die Helfer einen Kreis bildeten. Es sich noch einmal abwendete. Und dann … O-Ton Monika Sievers: „Es war mindestens noch drei Meter weg. Es herrschte plötzlich totale Stille. Alle haben sich fast nicht mehr Schnaufen getraut. Und dann endlich hat es Gudrun gesehen, und ist in sie hineingesprungen. Da haben alle geklatscht.“

Gudrun Gerum aber sagt, sie hat das alles gar nicht mehr mitbekommen. Sie war nur froh. So froh, wie ein Mensch in einem Weizenfeld mitten im Sommer nur sein kann, wenn er ein paar Pfund verloren geglaubtes Leben in den Armen halten kann. Sie hat vor Freude so sehr geweint, dass Bianca später fragte, ob ihr das nicht ein bisschen peinlich gewesen sei. So viele Tränen … vor allen. Aber ach. Auch Mutter Monika Stangl sagt ja, sie dürfe gar nicht daran denken, weil sie sonst gleich die Rührung überkomme, das Bild von ihrer Tochter Gudrun mit dem geretteten Kitz, das an ihren Haaren zupfte …

So könnte die Geschichte nun enden, aber ganz zu Ende erzählt ist sie noch nicht. Bambi musste wieder aufgepäppelt werden, lebt nun aber im Stall, schräg gegenüber von den Eseln, neben dem Pferd Casanova, die Katze schleicht sich gerne in die Box. Im Garten hat es nun ein eigenes Gehege mit einem Zaun, hoch genug. Gudrun Gerum hat all die Helfer noch einmal eingeladen, auf einen Sekt, auch weil es am Abend selbst schon spät war und ein Teil des Suchtrupps bei der Freiwilligen Feuerwehr gleich zum nächsten Einsatz gerufen wurde. Dorfleben eben. Wie es nun weitergeht? Wenn Bambi groß wird … man wird sehen. Im Garten der Gerums steht ein Schild mit einem Spruch von Buddha: „Hänge nicht der Vergangenheit nach, verliere dich nicht in der Zukunft, das Leben ist hier und jetzt.“

Es ist dies nur eine Geschichte von einem Dorf, das zusammenhält, einer Bäuerin und einem Rehkitz. Wenn die Nachbarin Monika Sievers nicht eine Mail geschrieben hätte, wüsste kaum einer außerhalb von Hechenwang davon. Ein kleines Märchen also nur, aber sei’s drum, es macht den Sommer noch ein bisschen schöner …

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