
Bertolt Brecht: „Wir müssen nahe beim Shakespeare bleiben“

Plus Brecht fühlte sich stets stark angezogen von den Stücken des englischen Dramatikers. Vor allem das Lebendige, das Experimentelle der Texte Shakespeares sprach ihn an.
Den Hunger Bertolt Brechts nach dramatischen Stoffen und Theaterstücken muss man sich als ziemlich unersättlich vorstellen. Er erstreckt sich nicht nur rund um den ganzen Globus, sondern er reicht auch von der Antike bis in die Gegenwart Brechts. Und die Zahl der von ihm bearbeiteten oder gelesenen Werke dürfte Legion sein. Eine besondere Rolle gehört dabei dem Werk Shakespeares. Das ist für deutsche Autoren nicht ungewöhnlich, aber Brechts Affinität zeichnet sich gleichwohl durch besondere Intensität aus.
In seiner nachgelassenen Bibliothek findet sich zwar eine ganze Reihe von Shakespeare-Ausgaben, deutsche und auch englische, zum Teil mit Eintragungen von fremder Hand. Die nach ihrem größeren Format als „First Folio“ bekannte Ausgabe ist freilich nicht darunter, deren Jubiläum dieses Jahr begangen wird: Diese erste Gesamtausgabe der Werke Shakespeares erschien sieben Jahre nach seinem Tod, vor genau 400 Jahren, 1623. Erst vor wenigen Monaten ging eines der raren Exemplare für mehrere Millionen Euro über den Tisch. Das Shakespeare-Jubiläum ist dem Deutschen Literatur-Archiv in Marbach gerade eine eigene Ausstellung wert.
Brecht hat sich mit 26 Werken von Shakespeare befasst
Für den vor 125 Jahren geborenen Brecht sind Jubiläen indes nicht entscheidend gewesen, genauso wenig passt die „kulinarische“ Pflege eines Bücherschatzes zu ihm. Kein bibliophiler Besitzerstolz, kam es ihm doch sehr viel mehr auf den Gebrauchswert seiner Shakespeare-Lektüren an. Schaut man in den Registerband der großen Werkausgabe, so stößt man auf die erstaunliche Zahl von 26 Werken des großen britischen Autors, mit denen Brecht sich zumindest ein Mal befasst hat. Vor allem das Lebendige, das Experimentelle im Theater Shakespeares hat Brecht angesprochen und es mit den zeitgleichen Experimenten Galileis verglichen.
Er interessiert sich für die epischen Züge im Elisabethanischen Theater, denn Shakespeare hat nicht selten schon vorliegende Stoffe (auch aus Novellen) bearbeitet und vermutlich auch in einem Autorenkollektiv gearbeitet. Weiter reklamiert Brecht für sich, dass nur der epische Stil „den wirklichen, nämlich den philosophischen Gehalt Shakespeares zur Wirkung bringt“. Dass er sich dann für den „Hamlet“ besonders interessiert, überrascht nicht. Dessen berühmtes Zögern gegenüber der ihm auferlegten Rachetat versteht Brecht als einen Akt der Vernunft.
Brechts Anliegen ist die Verfremdung einer klassischen Szene
In der großen theater-praktischen Schrift „Der Messingkauf“ geht Brecht weiter, indem er für die Proben der Darsteller Zwischenszenen schreibt, eine „Fährenszene“ für „Hamlet“, in der es um die Ablösung des Krieges durch den Handel geht, und „Die Bedienten“ für „Romeo und Julia“. Noch raffinierter fällt eine Parallelszene zum Königsmord und dem Auftritt des betrunkenen Pförtners in Shakespeares „Macbeth“ aus, unter der Überschrift „Der Mord im Pförtnerhaus“. Brechts Anliegen ist dabei die Verfremdung einer klassischen Szene, indem er sie in ein prosaisches Milieu übersetzt.
Die Texte des britischen Klassikers sind daher stets „absoluter Stoff“, lebendiges Material, das für eine Weiterführung und Umkehrung genutzt wird. So hat Brecht sich gerade der schottischen Königsmord-Geschichte intensiver bedient und 1927 eine Bearbeitung für den Rundfunk vorgenommen, bei der Werner Krauss und Helene Weigel in den Hauptrollen zu hören waren. Eine filmische Umsetzung wurde Mitte der 1940er Jahre entworfen, bei der die Prophezeiung der drei Hexen durch einen „Wahrsage-Zettel“ ersetzt wird.
Die römische Geschichte aus dialektisch-materialistischer Sicht
Während es nicht gelungen ist, „Julius Cäsar“ mit einer „soziologischen Konzeption“ zu verbinden, blieb Brecht über Jahrzehnte an einer anderen Tragödie Shakespeares aus der römischen Geschichte interessiert: Schon in den 20er Jahren erkannte er in einer „Coriolanus“-Aufführung, dass hier jede Szene für sich steht und nur ihr Ergebnis fürs Ganze benutzt wird. Aber erst dreißig Jahre später kommt er auf das Stück zurück und liefert eine Bearbeitung in neuer Übersetzung, die allerdings nicht ganz zu Ende geführt werden kann, unter anderem, weil sich Ernst Busch geweigert hat, die Titelpartie zu spielen. Brechts Anliegen war es, die römische Geschichte aus „dialektisch-materialistischer“ Sicht neu und kritisch zu bewerten.
Dass aber das Lebendige immer das Widersprüchliche ist, zeigt sich am deutlichsten, wenn aus einer geplanten Bearbeitung von „Maß für Maß“, Shakespeares philosophischstem Stück für Brecht, in mehreren Schüben schließlich eine politische Parabel wird, in der die ursprüngliche Vorlage nur noch sehr bedingt erkennbar ist: „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und reich gesellt sich gern. Ein Greuelmärchen“, uraufgeführt 1936 in Kopenhagen.
Man kann nicht sagen, dass diese Spuren unentdeckt geblieben wären, natürlich hat Brechts Shakespeare-Lektüre Aufmerksamkeit gefunden. Aber es ist auch nicht gesagt, dass alle Karten schon auf dem Tisch liegen würden. Was ist signifikant an Brechts Gipfeltreffen mit dem Briten?
Brecht filtert das für ihn Relevante und Nutzbare heraus
Zum einen gehört es zu den Besonderheiten seiner Lektüre-Begabung, wie er vor allem das für ihn Relevante und Nutzbare herausgefiltert hat. Es geht also nicht um Huldigungen eines großen Klassikers. Vielmehr hat Brecht mit enormer Kenntnis und sozusagen dramaturgischem Spürsinn auch Shakespeares Umgebung wahrgenommen und kreativ umgesetzt. Christopher Marlowes „Eduard II.“ war die erste, aber nicht die einzige Adaption des Elisabethanischen Zeitalters. Später noch arbeitete Brecht an Neufassungen von Stücken John Websters („The Duchess of Malfi“) und Thomas Heywoods („A Woman Killed with Kindness“).
Zum anderen dürften noch weitere Textstücke von Brechts Shakespeare-Affinität zum Vorschein kommen: Einige Blätter einer Beschäftigung mit „Antonius und Kleopatra“ sowie „Troilus und Cressida“, sodann eine Hamletbearbeitung für den Rundfunk, von zirka 1930, die selbst in der 30-bändigen Ausgabe noch nicht enthalten sind, könnten neue Erkenntnisse liefern.
„Wir müssen […] nahe beim Shakespeare bleiben, wenn wir nicht alle seine Vorzüge gegen uns mobilisieren wollen“, notierte Brecht im Journal 1951. Aber es ist immer auch eine von beeindruckender Scharfsinnigkeit und Kritik geprägte Nähe, die Brecht zeigt, wenn er davon spricht: „Es gibt nichts Dümmeres, Shakespeare so aufzuführen, daß er klar ist. Er ist von Natur unklar. Er ist absoluter Stoff.“
Zur Person: Prof. Mathias Mayr ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Augsburg.
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