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Kommentar: Was beim EU-Gipfel passiert ist, darf sich nicht wiederholen

Kommentar

Was beim EU-Gipfel passiert ist, darf sich nicht wiederholen

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    Als EU-Kommissionspräsidentin nominiert: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU).
    Als EU-Kommissionspräsidentin nominiert: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Foto: Mohssen Assanimoghaddam (dpa)

    Diese Kandidatur ist ein Tabubruch. Das liegt nicht daran, dass Ursula von der Leyen nach 58 Jahren erst die zweite deutsche Politikerin auf dem Chefsessel der Europäischen Kommission werden könnte. Und noch weniger an der Perspektive, die erste Frau an der Spitze der wichtigsten EU-Behörde zu sein. Nein, der offene Affront dieser Kandidatur liegt in der Entscheidung der Staats- und Regierungschefs, sich wissentlich gegen den Beschluss des EU- Parlamentes zu stellen, nur einen Spitzenkandidaten zu akzeptieren.

    Das wird dieser Union einmal mehr den Vorwurf mangelnder Demokratie einbringen. Schließlich hatten die Parteienfamilien mit der Einführung dieses Modells doch versucht, den Bürgern mehr Einfluss auf die Besetzung der Top-Jobs in Brüssel zu gewähren. Aber die Staats- und Regierungschefs haben sich nicht einfach über diese Vorgabe hinweggesetzt, ihnen blieb keine andere Wahl. Weil eben jene Spitzenkandidaten nicht mehrheitsfähig waren. Dass dabei nationale Egoismen und politische Rache eine Rolle spielten, ist schwer nachvollziehbar, aber Teil der Realität. Und es wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der Union.

    Aber es hilft nichts. Wenn es keine Mehrheiten gibt, müssen andere Lösungen gefunden werden. Doch der Kampf der Institutionen hat gerade erst begonnen. Das Europäische Parlament kann die Bewerberin ablehnen – gerade weil sie bei der EU-Wahl nicht als Top-Kandidatin gesetzt war. Doch der Preis wäre hoch. Einen Machtkampf der Institutionen darf sich die Gemeinschaft eigentlich nicht leisten.

    Was da in Brüssel passiert ist, darf sich nicht wiederholen

    Sehr viel konstruktiver wäre es, wenn das Parlament nunmehr vormachen würde, dass es letztlich auf die Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten für das Amt ankommt. Von der Leyens Nähe zu den Zielen und Werten dieser Gemeinschaft sind unstrittig – und die wird man auch nicht mit dem Hinweis auf ihre Probleme in und mit der Bundeswehr, mit Beratern und stillgelegten Segelschulschiffen entkräften können. Dass die CDU-Politikerin die Gemeinschaft durchaus versiert auf der Weltbühne vertreten kann, steht außer Zweifel. Da könnte man mit weitaus mehr Gründen auf andere Schwachstellen dieses Personaltableaus verweisen.

    Wer sich bisher über die Hinterzimmer-Kungeleien der Staats- und Regierungschefs erregt hat, kann nun beweisen, dass er selbst Entscheidungen nach anderen, rein fachlichen Kriterien fällt. Das EU-Parlament hat auf seine Weise an der Aussichtslosigkeit, für einen Spitzenkandidaten eine ausreichende Mehrheit zu sichern, mitgewirkt. Das darf nicht so bleiben – über das Votum der Volksvertreter für oder gegen die neuen Führungsfiguren der Union hinaus. Kompromissfähigkeit wird mehr und mehr zu einer unabdingbaren Voraussetzung, gerade weil die bisherige Herrschaft der zwei großen Parteienfamilien zu Ende gegangen ist. Mehrheiten nur verhindern zu wollen, ist keine Politik, sondern mindestens so undemokratisch wie der tumbe Dauerwiderstand der EU-Skeptiker und -Gegner.

    Der EU-Personalpoker in Zitaten

    "Sie können sich vorstellen, dass das ein schwieriger Tag für mich ist."

    Manfred Weber, EVP-Spitzenkandidat

    "Der Spitzenkandidatenprozess hat einen Knacks."

    Jean-Claude Juncker, Kommissionspräsident

    "Ursula von der Leyen ist als Chefin der EU-Kommission für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht akzeptabel."

    "Wir können das Spitzenkandidaten-Prinzip nicht einfach über Bord werfen, weil das Ergebnis der Wahl einigen Regierungschefs nicht in den Kram passt."

    Udo Bullmann, Vorsitzender der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament

    "Ein Sieg von Orbán & Co. Sie haben Timmermans verhindert, der für Rechtsstaatlichkeit steht. Die Regierungschefs dealen etwas aus, der Spitzenkandidatenprozess ist tot."

    "Von der Leyen ist bei uns die schwächste Ministerin. Das reicht offenbar, um Kommissionschefin zu werden."

    Martin Schulz, ehemaliger Präsident des EU-Parlaments

    "Die Europa-SPD wird diesem Vorschlag auf keinen Fall zustimmen."

    Chef der SPD-Abgeordneten im Europaparlament, Jens Geier

    "Ich freue mich insbesondere, dass erstmals der Vorschlag eines Kommissionspräsidenten eine Frau ist, das ist ein historischer Moment."

    Brigitte Bierlein, Bundeskanzlerin Österreich

    "Besonders freue ich mich, dass wir erstmals zwei Frauen in sehr wichtigen Rollen haben: Erstmals eine Präsidentin der Kommission und erstmals eine Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Ich denke das sendet ein weiteres Mal eine Botschaft aus, dass Europa führend ist in der Gleichberechtigung der Geschlechter."

    Leo Varadkar, Premierminister Irland

    "Das ist eine Zumutung."

    Reinhard Bütikofer, Co-Vorsitzender Europäische Grüne Partei

    "Friedenspolitisch ist dies jedenfalls ein böses Omen für die kommenden Jahre."

    Özlem Alev Demirel, friedenspolitische Sprecherin der Delegation Die Linke im EP

    "Ich bin auch ganz sicher, dass die aktuelle Entwicklung in Europa wieder verfilmt werden könnte unter dem Motto "Denn sie wissen nicht, was sie tun"."

    CSU-Chef Markus Söder

    "Das trägt dem Sieg der EVP bei den Europawahlen Ende Mai Rechnung."

    "Für die parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene ist das ein Rückschritt"

    Katja Leikert, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

    "Wir haben als Koalitionspartner von der Leyen bisher immer geschont. Das können wir so nicht mehr aufrecht erhalten."

    Karl Lauterbach, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Kölner Stadt-Anzeiger

    "Dieser Plan ist eine ziemliche Dreistigkeit und wird hoffentlich vom EU-Parlament gestoppt."

    SPD-Vize Ralf Stegner zur Funke Mediengruppe

    "Hoffentlich nicht so bald wieder."

    Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ein freundliches "auf Wiedersehen" von Journalisten auf einer Pressekonferenz

    Was die Staats- und Regierungschefs in dieser Hinsicht nicht zustande gebracht haben, muss das Parlament besser machen. Die Abstimmung über Ursula von der Leyens Kandidatur für die Spitze der EU-Kommission wird dafür – eine plausible und überzeugende Bewerbung vorausgesetzt – zu einer Nagelprobe. Die Gemeinschaft muss in den kommenden Monaten einen Brexit verkraften, ehrgeizige Klimaschutz-Ziele beschließen und einen Haushaltsrahmen für die sieben Jahre ab 2021 beschließen. Was in diesen zwei Gipfeltagen an gegenseitiger Blockade, Ignoranz und Nationalismen deutlich geworden ist, darf sich dabei nicht wiederholen – in keinem EU-Gremium.

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