Wie Künstler die Wilhelmsburg in Ulm erobern
Ein kreatives Kollektiv aus Braunschweig bespielt die Wilhelmsburg in Ulm. Eine Ausstellung in ständiger Transformation.
Für Fans der Lost Places-Szene, für Fotografen und Liebhaber gruseliger Gemäuer ist die Ulmer Wilhelmsburg sicher ein Eldorado. Die rohen Steinwände, die hallenden Räume, in die kaum Licht dringt, das hat Atmosphäre, für manchen sogar Charme. Den muss man allerdings auch erkennen. Clara Brinkmann aus Braunschweig erkannte das Potenzial. Als das Kulturamt Ulm im Frühjahr wieder eine Artist-in-Residence beziehungsweise Artist-in-Burg ausrief, meldete sich die junge Künstlerin und war bei einer Ortsbegehung sofort Feuer und Flamme.
Künstler erleben eine Ferienlager-Atmosphäre in der Ulmer Wilhelmsburg
Aber sie erkannte auch, dass sie „Verrückte“ um sich bräuchte für das Vorhaben. Denn die Räume sind groß und nicht eben einfach zu bespielen. Brinkmann fand Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Umfeld ihrer Kunsthochschule in Braunschweig, jetzt leben sie in einer Art von Ferienlager-Atmosphäre in einem Raum in der Burg. Es sei stellenweise „wie in einem Kloster“, sagt Karl Gehrke. Wenn nicht gerade seitens „Stürmt die Burg“ etwas los ist, sei es da oben ganz schön einsam und leise.
Seit dem vergangenen Freitag kann man sehen, was die jungen Leute in die alten Gewölbe, Gänge, Kammern und Kavernen eingebaut haben. Eine Art von „Escape Room“ hat Initiatorin Clara Brinkmann in einen ehemaligen Waschraum eingebaut. Spielerisches und Grausiges vermengen sich bei ihrem Beitrag „Empfänger unbekannt“, denn sie spielt da auch mit der eigenen Familiengeschichte. Man habe von Kriegsopfern in der Großelterngeneration immer so gesprochen: „Die sind im Krieg geblieben“. Brinkmanns Fantasie entzündet sich noch heute an dieser euphemistischen Formulierung: „Als wären sie immer noch im Krieg, für immer, irgendwie gefangen zwischen Tod und Leben“. Entsprechend hat ihr Raum auch Schützengrabenatmosphäre, und die Beklemmung, die den Betrachter packt, ist Teil des Konzepts.
Überhaupt wird in der Gruppenausstellung, die eigentlich ein Work-in-Progress-Vorhaben ist und sich stetig verändern soll, viel gespielt. Schon im Titel „Mäandertal und Wellenberg“, der sich auf die Topografie von Ulm und Umland bezieht, aber eben auch in den einzelnen Projektbeiträgen. Tim Rosentreter etwa hat zwei Räume eingerichtet – einer wirkt ganz behaglich, der andere wie dessen komplettes Gegenteil. „Wann kippt etwas ins Gegenteil?“, fragt Clara Brinkmann und macht mit der Frage einen programmatischen roten Faden sichtbar. Rosentreter hat auch eine Dunkelkammer eingerichtet, die mit Papprollen ausgefüllt ist. Das soll an gewaltige Insektenbauten erinnern und wenn man mittels UV-Taschenlampe auf die Suche geht, kann man kurze Texte finden, die von Insekten-Outsidern erzählen.
Weniger launig geht es Karl Gehrke an, der mit den Kavernen spielt. Einbauten verkleinern und verzerren einen Durchgang, die Beleuchtung abstrahiert ihn zusätzlich. Und als wäre das nicht genug, wird der Besucher mit speziellen Brillen „gehandicapt“, sodass er sich Hilfe suchen muss, beim Durchlaufen des Parcours. Alles Absicht natürlich: „Es geht um Kommunikation, Kooperation, das Zusammenfinden“, erklärt Gehrke.
Unter dem Burgboden in Ulm blubbert und gurgelt ein Kunstprojekt
Marie Schoberleitner gibt den Besuchern eins auf die Nase, könnte man sagen. Sie hat Essen und Getränke, die die Gruppe seit ihrer Ankunft konsumierte, in Fermentationsprozesse gebracht. Jetzt blubbern und gurgeln diese Produkte in Rohren, die in den Burgboden eingegraben sind. Es riecht nach Brauerei und altem Blumenwasser. Witzig geht es Daphne Schüttkemper an, die historische Zaunaufsätze in Wachs nachbildete. Die Wachsabgüsse, teilweise verformt, wärmeempfindlich, besiedeln wie fremdartige Lebewesen einen Schutthaufen. Steffen Lischka dekonstruiert die Burg: mittels Virtual Reality-Brillen lernt man sie auf neue Weise kennen, zerlegt in Einzelteile, in „Organe“. Eine Videoarbeit von Jakob Klukas ergänzt die Arbeiten des Kollektivs. Am kommenden Wochenende wird sich die Truppe mit Künstlern aus Berlin in der Burg treffen. Dann wird mit Sound gearbeitet und KI-generierte Tattoos gestochen. Ein breites Angebot an Künstlergesprächen und Rundgängen begleitet die Ausstellung, die mit einer Finissage am 18. August um 20 Uhr endet.
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