Mr. Hattie, Sie haben Daten von mehr als 230 Millionen Schülerinnen und Schülern zu einer großen Studie zusammengefasst. Herr Zierer, sie übersetzen Hatties Erkenntnisse ins Deutsche. Wie kann man einen solch unvorstellbaren Berg an Daten auswerten?
John Hattie: Die Daten stammen von mehr als 2400 sogenannten Meta-Analysen und über 100.000 Einzelstudien. Sie zu sammeln und zu analysieren, ist der einfache Teil daran. Der harte ist, die Bedeutung herauszulesen, zu ermitteln, was dazu führt, dass Schülerinnen und Schüler unter oder über dem Leistungsdurchschnitt liegen. Schwierig ist auch, daraus große Leitmotive zu entwickeln und Verständnis in der Öffentlichkeit zu generieren. Für mein erstes Buch im Jahr 2008 hat mich das 25 Jahre gekostet, für das Nachfolgewerk noch einmal 15 Jahre.
Sie wurden vom Magazin "Stern" einmal als "Harry Potter der Pädagogen" bezeichnet. Es hieß, Sie hätten in Sachen Bildung den Stein der Weisen gefunden. Können Sie dieser Bezeichnung etwas abgewinnen – oder favorisieren Sie als Neuseeländer "Herr der Ringe"?
Hattie: Ich wäre aus pädagogischer Sicht gern entweder Ginny Weasley aus Hogwarts oder Aragorn aus "Herr der Ringe" – beide sind bemerkenswerte Lerner, überwinden Widrigkeiten, mögen es, Schwierigkeiten zu meistern, und sind auch einfach nette Menschen. Am liebsten wäre ich aber der "Boss", also Bruce Springsteen (lacht).
Ähnlich viele Fans scheinen Sie zu haben. Bei Ihrem Vortrag jüngst in Augsburg hat ein Pädagoge Ihren Auftritt als "Weltereignis" bezeichnet. Das zentrale Ergebnis Ihrer Studien wird meist mit dem Satz zusammengefasst: "Auf die Lehrkraft kommt es an." Trifft die Zusammenfassung so zu?
Hattie: Ja, die Lehrkraft ist der wichtigste Einfluss innerhalb der Schule. Aber wir müssen das konkretisieren. Das gilt nur, wenn die Lehrkräfte die Wirkung ihres Unterrichts ständig bewerten und hinterfragen, wenn sie hohe Erwartungen haben und das Lernen aus Sicht der Schülerinnen und Schüler sehen.
Wird die Aussage auch noch Mitte des Jahrhunderts gelten, trotz künstlicher Intelligenz, die auch in der Schule immer mehr Einfluss gewinnt?
Hattie: Die Aussage wird mit den Fortschritten der KI sogar noch wichtiger, da den Schülern und Schülerinnen beigebracht werden muss, beweiskräftige Fragen zu stellen, Richtig und Falsch zu bewerten und kritisch mit den Produkten künstlicher Intelligenz umzugehen.
In den vergangenen Jahren haben Sie sich verstärkt der Frage gewidmet, wie das Denken von Lehrpersonen Einfluss auf das Lernen von Schülerinnen und Schülern hat. Wie denkt eine gute Lehrkraft?
Hattie: Es kommt sogar mehr darauf an, wie Lehrkräfte denken, als darauf, was sie tun. Zwei Lehrer könnten die gleiche Unterrichtsstunde halten, aber der Erfolg hängt davon ab, ob der Lehrer seine Aufgabe darin sieht, Wirkung bei allen Schülern hervorzurufen, oder ob er es als seine Aufgabe betrachtet, einfach nur sicherzustellen, dass alle Schüler die Arbeit erledigen und sich an die Anweisungen halten. Die großartigen Lehrkräfte tun Ersteres, die nicht so großartigen Letzteres.
Und was können Eltern und Großeltern zum Bildungserfolg der Kinder in ihrer Familie beitragen?
Hattie: Eltern und Großeltern spielen eine entscheidende Rolle. Sie sind nicht in erster Linie dazu da, die Arbeit der Schule zu übernehmen. Aber ihre Erwartungen spiegeln sich in den Kindern wider. Trauen sie dem Kind etwas zu, wirkt das ansteckend. Niedrige Erwartungen wirken wie ein Killervirus auf die Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Die Aufgabe von Eltern und Großeltern besteht darin, die Liebe zum Lernen zu wecken. Zu zeigen, dass es ein Geschenk sein kann, auch mal zu wanken, dass Fehler und Irrtümer Chancen sein können. Und Kinder brauchen eine hohe Dosis unterstützenden Feedbacks. Deshalb habe ich mein Buch über Elternschaft auch zusammen mit meinem Sohn geschrieben.
Herr Zierer, was kann man, ausgehend von den Hattie-Studien, am bayerischen Schulsystem verbessern?
Klaus Zierer: Die Debatte, die infolge des schlechten Abschneidens bei Pisa in diesem Jahr stattgefunden hatte, ist über weite Teile ein schönes Beispiel dafür, was man aus den Hattie-Studien nicht ziehen kann: Hier eine Stunde mehr, da eine Stunde weniger, dann wird das schon. Hatties Kernbotschaft ist ganz anders und auch für das bayerische Schulsystem wichtig: Entscheidend ist die Unterrichtsqualität! Diejenigen Maßnahmen sind zu ergreifen, die helfen, dass Unterricht herausfordernder, motivierender, nachhaltiger wird. Dabei kommt man nicht umhin, über die Lehrerbildung zu sprechen, die John als notleidendste Institution weltweit sieht.
Vor ungefähr fünf Jahren erregte ein Aschaffenburger Schulleiter Aufmerksamkeit, der sein Gymnasium orientiert an Hatties Forschungsergebnissen leitete. Bildungsexperten beschrieben die Schule als "wohltuend konservatives Gymnasium, das auf Förderung und bewährte Unterrichtsmethoden setzt." Würden Sie als Hattie-Experte das so unterschreiben?
Zierer: Was sicherlich in der Wahrnehmung korrekt ist: Die empirische Bildungsforschung bestätigt immer wieder, dass bewährte Unterrichtsmethoden eine hohe Wirksamkeit haben – kein Wunder eigentlich, sonst hätten sie sich ja auch nicht bewährt. Allerdings zeigt diese Debatte einen Denkfehler im Diskurs. Wir schauen gerade in Deutschland viel zu sehr darauf: Was ist alt, was ist neu, was ist bewährt, was ist modern, was ist konservativ, was ist progressiv und dergleichen. Doch diese Begriffe legen den Fokus nicht auf die entscheidende Frage: Ist der Unterricht gut und hat er eine hohe Wirksamkeit? Wenn eine Schule belegen kann, dass alle Schüler aufgrund des Unterrichts nicht nur gute Leistungen erzielen, sondern auch nachweislich alle Schüler deutlich an Leistung zugelegt haben, dann spricht das für den Schulentwicklungsprozess.
Zuletzt gab es häufig Diskussionen darüber, ob eine allzu heterogene Schülerschaft in einer Klasse – etwa durch Migration und Inklusion – dazu führt, dass sich die Leistungen aller Schülerinnen und Schüler verschlechtern. Ist das so, Herr Hattie?
Hattie: Heterogenität ist die Norm in unserem Leben – in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft. Daher sollten Schulen dies widerspiegeln, um den Schülern und Schülerinnen die Fähigkeiten zu vermitteln, andere zu respektieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Meine Forschung beweist, dass Gruppierung und Segregation keinem Schüler zugutekommt. Ich bin übrigens auch erstaunt darüber, dass das deutsche System zu wissen glaubt, was ein elf- oder zwölfjähriger Schüler im Alter von 30 Jahren können wird, und ihn entsprechend einer Schulart zuteilt. Und ich bin bestürzt darüber, wie unglaublich viel Erfolg verloren geht, indem man Kindern einen Stempel verpasst.
Herr Zierer, gerade gab es im Freistaat Übertrittszeugnisse. Der Notenschnitt entscheidet darüber, ob ein Kind es auf Mittelschule, Realschule oder Gymnasium schafft. Zeitpunkt und Aufbau des Zeugnisses sind seit vielen Jahren umstritten. Wie bewerten Sie das Übertrittszeugnis aus pädagogischer Sicht?
Zierer: Der Übertritt wird leidenschaftlich diskutiert – und zu Recht: Der Weg dorthin ist mit Proben zugepflastert, die für viele zu massiven Stolpersteinen nicht nur in der Schule, sondern auch in der Persönlichkeitsentfaltung werden. Danach führt der Weg bei Schulwechseln meist von oben nach unten. Damit ist auch die Herausforderung des Übertritts angesprochen: Wie können wir diesen so gestalten, dass er Kinder nicht entmutigt, demotiviert und stigmatisiert, sondern ermutigt, motiviert und wertschätzt? Natürlich kann man im Zug dieser Frage über den Zeitpunkt sprechen, aber vor allem wird über die Qualität zu sprechen sein – und da gibt es viel zu tun.
Kommt die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach der 4. Klasse zu früh?
Zierer: Ich war selbst mehrere Jahre Grundschullehrer und hatte in der 4. Klasse das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, allen gerecht zu werden. Das belegen auch Studien: Die Streuung bei den Lernleistungen geht extrem auseinander – mit zunehmendem Alter immer stärker. Auch wenn keiner weiß, was ein Mensch im Leben noch alles erreichen wird können, im Hier und Jetzt gibt es Hinweise auf Stärken und Entwicklungsbereiche. Somit bleiben im Kern nur zwei Wege: Entweder man lernt länger gemeinsam und sorgt für wirksame Differenzierung, also eine individuelle Förderung, was vor allem leistungsschwächeren Schülern zugutekommt. Oder man gliedert das Schulsystem und sorgt für wertschätzende Übergänge, wovon vor allem leistungsstärkere Schüler profitieren. Aus empirischer Sicht ist es daher eine Patt-Situation und deswegen erneut: Die Qualität im System ist wichtiger.
Herr Hattie, letzte Frage: Im Jahr 2011 ernannte Sie Queen Elizabeth II. zum Officer des "New Zealand Order of Merit", einem Ehrenorden für besondere Verdienste. 2016 bekamen Sie das Ehrendoktorat der Universität Augsburg. Welche Auszeichnung bedeutet Ihnen mehr?
Hattie: Wenn die Menschen, die Sie erreichen wollen, Ihren Einfluss erkennen, ist das wunderbar, daher bedeuten mir beide Auszeichnungen sehr viel. Die Ehrendoktorwürde von Augsburg ist eine selten verliehene Auszeichnung – das wertet sie zusätzlich auf.
Zu den Personen John Hattie, 74, ist Direktor des Instituts für Pädagogikforschung an der Universität Melbourne. Er stammt aus Neuseeland. Sein Buch "Visible Learning" gilt als Meilenstein der Erziehungswissenschaft, dessen Fortsetzung gerade erschienen ist. Klaus Zierer, 48, ist Professor für Schulpädagogik der Uni Augsburg. Er arbeitet seit vielen Jahren mit Hattie zusammen und ist einer der Übersetzer von dessen aktuellem Buch "Visible Learning 2.0".