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Finanzkrise 2008: Britischer Wirtschaftshistoriker: „Die Krise kann sich wiederholen“

Finanzkrise 2008

Britischer Wirtschaftshistoriker: „Die Krise kann sich wiederholen“

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    Zehn Jahre Lehman-Pleite: Rund 50.000 deutsche Kleinsparer waren im Herbst 2008 mit in den Lehman-Abgrund gerissen worden.
    Zehn Jahre Lehman-Pleite: Rund 50.000 deutsche Kleinsparer waren im Herbst 2008 mit in den Lehman-Abgrund gerissen worden. Foto: Peter Foley, dpa

    Herr Tooze, Sie gehen in Ihrem neuen Buch „Crashed“ den Ursachen der Finanzmarktkrise vor zehn Jahren nach. Was charakterisiert den Einbruch?

    Tooze: 2008 erlebten wir eine transatlantische Bankenkrise, in die neben amerikanischen auch europäische Kredithäuser verwickelt waren. Was fatal war: Man konnte an den Bankbilanzen nicht ablesen, dass in ihnen eine solch große Sprengkraft schlummert. Denn die Bankbilanzen waren ausgeglichen.

    Wie kam es dann damals zur „Kernschmelze“, wie sie es nennen?

    Tooze: Europäische Banken haben sich wie amerikanische verhalten. Sie haben mit der Globalisierung ernst gemacht. Umgekehrt haben amerikanische Fonds ihre Gelder in die Anleihen europäischer Banken gesteckt. Die transnationale, globalisierte Finanzierung wurde also konsequent über die Bilanzen privater Unternehmen umgesetzt. Darin lauerte das Gefahrenpotenzial.

    Von welchen Ländern könnte denn eine neue Finanzkrise ausgehen?

    Tooze: In Schwellenländern und selbst in China beobachten wir, dass Banken und Unternehmen dort große Schulden in ausländischen Währungen – vor allem in Dollar – aufbauen. Das kann gefährlich werden, wenn im Zuge einer Krise die Finanzierung in Dollar nicht mehr gewährt ist. An den Handelsbilanzen und am Staatshaushalt kann man diese Risiken nicht ablesen. Sehen Sie sich Deutschland im Jahr 2008 an. Die volkswirtschaftlichen Parameter zeigten ein kerngesundes Land, aber etliche Banken waren am Rand des Ruins.

    Wie konnte es so weit kommen?

    Tooze: Der Auslöser war, dass sich Banken Risiken in die Bilanzen geholt hatten, die sie nicht richtig einschätzen konnten. Die Banken hatten massenweise verbriefte Hypothekendarlehen in den Bilanzen stehen. Diese wurden notleidend, als der Immobilienmarkt in den USA einbrach und die Preise enorm fielen. Ein Domino-Effekt setzte weltweit ein: Er reichte von der kollabierten US-Investmentbank Lehman bis zur damals wankenden Bayerischen Landesbank. Was besonders fatal war und das Bankensystem anfällig machte, war, dass diese Papiere zum erheblichen Teil nicht an Anleger weiterverkauft wurden, sondern in den Bilanzen der Banken gehalten wurden, und zwar kurzfristig finanziert.

    Die US-Investmentbank Lehman erwirtschaftete Tage vor dem Einbruch noch Milliarden Dollar

    Jetzt nähern wir uns dem Kern der Kernschmelze. Worin besteht er?

    Tooze: Jedes Bankensystem ist fragil, weil kurzfristige Ansprüche, also die Anlagen der Kunden und Mittel aus den Geldmärkten, langfristig angelegt werden. Der große Fehler war, dass diese enormen Hypothekenrisiken ausgerechnet bei Banken anfielen, die sich in den 90er Jahren auf ein kurzfristiges Finanzierungsmodell umgestellt hatten. So verhielten sich einst normale Banken wie Investmentbanken. Sie beschafften sich Mittel nicht über reguläre Kundendepositen, sondern Tag für Tag am Markt. So hat sich die 2007 in Refinanzierungsschwierigkeiten geratene britische Bank Northern Rock täglich Milliarden besorgt. Als die Finanzmärkte in Panik gerieten, fiel diese Geldquelle in Billionenhöhe für die Banken weltweit aus.

    Warum ist die Bankenwelt so fragil?

    Tooze: Weil immer die Gefahr eines Bank Runs besteht, wenn Sparer in Krisensituationen Banken nicht mehr vertrauen, zu ihnen rennen und ihr ganzes Geld abheben. Das ist die klassische Form eines Bank Runs. Was wir 2007 und 2008 erlebt haben, ist ein Run auf Weltebene und in Billionenhöhe – angetrieben von den Banken selbst, die sich gegenzeitig das Geld entzogen haben.

    Eine brandgefährliche Situation.

    Tooze: Keine Bank kann einen ungezügelten Bank Run überleben. Und die Unsicherheit verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Lehman konnte noch Anfang September 2008, also Tage vor dem Einbruch, täglich bis zu 200 Milliarden Dollar beschaffen und dann war schlagartig das Geld weg und die Bank war nicht mehr zu halten. Manche der verbrieften Hypothekendarlehen waren tatsächlich desaströs. Aber die meisten nicht. Wenn man sie langfristig halten konnte, zahlten sie aus. Aber dafür fehlte schlagartig die Finanzierung.

    Diese Banken waren in Deutschland von der Finanzkrise betroffen:

    BayernLB: Die Landesbank hatte sich im Zuge der US-Hypothekenkrise verspekuliert und musste mit Notkrediten von zehn Milliarden Euro gestützt werden. Die EU-Kommission verordnete eine radikale Schrumpfkur mit Halbierung der Bilanzsumme.

    Commerzbank: Die zweitgrößte deutsche Privatbank geriet nach der riskanten Übernahme der Dresdner Bank mitten in der Finanzkrise in Turbulenzen. Der Staat sprang ein. Die direkten Staatshilfen haben die Frankfurter zurückgezahlt. Der Bund ist mit rund 15 Prozent aber weiterhin größter Einzelaktionär der Bank.

    HRE: Der Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate wurde zunächst mit staatlichen Milliardenhilfen aufgefangen. 2009 wurde die Bank notverstaatlicht. Die Altlasten wurden später in eine Abwicklungsanstalt ausgelagert, die weiter im Staatsbesitz ist. Die profitable Kernbank Deutsche Pfandbriefbank kam 2015 an die Börse und finanziert Investitionen in Gewerbeimmobilien.

    IKB: Die IKB Deutsche Industriebank war eines der ersten Opfer der Krise. Sie verspekulierte sich mit US-Hypotheken und musste 2007 von der staatlichen KfW, dem Bund und anderen Banken mit Milliarden gerettet werden.

    Welches Gedankengut führte uns an den Abgrund?

    Tooze: Es war ein Machbarkeitswahn, der Glaube mit an sich unkalkulierbaren Risiken zurechtzukommen.

    Fühlten sich Banker wie Gott?

    Tooze: Die Banker spielten mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wenn wie 2007 und 2008 nicht der unwahrscheinliche Fall passiert wäre, dass sich so viele Gefahrenpotenziale auf einmal realisieren, wäre alles gut gegangen. Die Banker dachten sich, sie hätten mehrere Würfel in der Hand und die Wahrscheinlichkeit sei sehr gering, dass auf einmal mehrere Sechsen gewürfelt werden. Philosophisch betrachtet verhielt es sich wie beim Betreiben eines Atomreaktors. Das Risiko eines Super-GAUs ist zwar extrem gering, aber die Katastrophe kann passieren. Das ist Kapitalismus, eine vom Profit und Risiko angetriebene Maschine. Insofern kann sich eine Krise wie 2008 wiederholen.

    Sind wir gar nicht klüger geworden?

    Tooze: Ich habe dazu ein Gespräch mit Timothy Geithner, dem früheren amerikanischen Finanzminister geführt. Der Politiker legt eine tragische Weltsicht an den Tag. Er glaubt, wir müssten auch in Zukunft mit Finanzkrisen rechnen, die wir nicht vorhersehen können. Geithner meint, wir bräuchten eine Art Erste-Hilfe-Notprogramm für solche Fälle. Er stellt sich das sehr militärisch vor. Der amerikanische Staat muss seines Erachtens auf eine solche Politik mit dem Instrumentarium einer Notstandspolitik antworten.

    Kann man den Finanz-Kapitalismus nicht ein wenig humaner gestalten?

    Tooze: Mit Humanismus würde ich da nicht operieren. Ich glaube nicht, dass uns Humanismus weiterhilft. Der Finanzkapitalismus ist, wie seine Schwächen zeigen, allzu menschlich. Man kann das Gefahrenpotenzial des Finanz-Kapitalismus aber durch Regulierung verringern.

    Die Wurzeln der Finanzkrise

    Sie werfen in Ihrem Buch die Frage auf, ob wir schlafwandlerisch oder durch dunkle Mächte in die Krise gezogen wurden. Was war der Fall?

    Tooze: Wir sind in diese tiefe Krise der Moderne nicht schlafwandlerisch, sondern interessensgeleitet hineingestolpert. Die Wall Street und die Finanzplätze in London, Frankfurt oder Paris haben sich eine Art Blankoscheck ausgestellt, der darin bestand, die hohen Risiken einzugehen. Es war keine rein von den USA ausgehende Krise. In London hat Ex-Premierminister Tony Blair die Tür weit für den Finanz-Kapitalismus aufgemacht. Doch die treibende Kraft hinter der Liberalisierung der Finanzmärkte sind transnationale Konzerne. Sie sind in der Lage, Finanzplätze gegeneinander auszuspielen. Die Wurzeln einer Krise wie vor zehn Jahren liegen weniger in einem neoliberalen Denken als im knallharten Wettbewerb zwischen profitgetriebenen Global Playern und den Finanzstandorten.

    Sie glauben, dass sich eine solche Krise wiederholen kann. Doch welche Lehren können wir aus dem Desaster ziehen?

    Tooze: Wir könnten hochpolitisch ansetzen und ein völliges Umdenken proklamieren. Doch dazu bräuchte es einen erheblichen Elan, den ich weder in den USA noch in Europa ausmachen kann. So müssen wir das Thema technisch angreifen. Und hier ist einiges passiert. Die amerikanischen Banken haben mehr Eigenkapital in ihren Bilanzen als 2008. Man hat also Sicherheitsgurte eingebaut.

    Wie stramm sitzen solche Sicherheitsgurte bei europäischen Banken?

    Tooze: Trotz Verbesserungen nicht so straff wie bei den amerikanischen. Die europäischen Großbanken sind nach wie vor Risiko-Verstärker im Weltfinanzsystem. Darunter fällt die Deutsche Bank, die Credit Suisse und die in London sitzende HSBC. Die Deutsche Bank ist nach wie vor unterkapitalisiert. Sie verfügt vor allem über kein Geschäftsmodell, mit dem sich auf sichere Art Gewinne erzielen lassen. Bei der Deutschen Bank hat man stets den Eindruck, dass sie dem Gewinn nachjagen muss und deshalb schwerwiegende Risiken eingeht. Unser einziger Vorteil: Seit der Krise und dank der Krise sind wir etwas besser informiert.

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