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Interview: Heil will im Kampf gegen Fachkräftemangel "alle Register ziehen"

Interview

Heil will im Kampf gegen Fachkräftemangel "alle Register ziehen"

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    Bundesarbeitsminister Heil Hubertus Heil will im Kampf gegen den Fachkräftemangel nicht nur auf Zuwanderung setzen.
    Bundesarbeitsminister Heil Hubertus Heil will im Kampf gegen den Fachkräftemangel nicht nur auf Zuwanderung setzen. Foto: Fabian Sommer, dpa

    Herr Heil, die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, die Wirtschaft klagt jetzt schon über Fachkräftemangel. Auf der anderen Seite gibt es viele junge Menschen ohne Berufsausbildung. Wie wollen Sie da gegensteuern?

    Hubertus Heil: Dass wir in vielen Branchen und Regionen jetzt schon über Arbeits- und Fachkräftemangel zu klagen haben, ist ja Ergebnis einer sehr positiven Entwicklung. Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland in Arbeit wie heute, es gibt 46 Millionen Erwerbstätige. Aber die Aufgabe der Fachkräftesicherung wird größer, weil ab 2025 die geburtenstarken Jahrgänge wohlverdient aus der Arbeit in Rente gehen. Deshalb ist Fachkräftesicherung eine Frage der Wohlstandssicherung. Dafür müssen wir alle Register ziehen, auch im Bereich Ausbildung. Viele Unternehmen klagen, dass sie keinen Nachwuchs finden, gleichzeitig haben wir 2,6 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 35, die keine Ausbildung haben. Und die sehe ich dann häufig in den Jobcentern wieder. Mir ist wichtig, dass wir dieser Entwicklung dauerhaft den Nachwuchs abgraben. Deshalb schaffen wir mit dem Aus- und Weiterbildungsgesetz die dafür notwendigen Instrumente.

    Auf welche Maßnahmen setzen Sie dabei?

    Heil: Wichtig ist erstens gute Berufsorientierung. Rund die Hälfte eines Jahrgangs macht mittlerweile Abitur. Und auf elterlichen Wunsch beginnen die meisten dann ein Studium, was viele aber wieder abbrechen. Die müssen wir mühsam für eine berufliche Ausbildung gewinnen. Frühe Berufsorientierung schon in der Schule beugt dem vor. Unser Land braucht nicht nur Master, sondern auch Meister. Es geht zweitens um Mobilität. Wir haben Regionen, in denen Unternehmen händeringend Auszubildende suchen, während sich in anderen, strukturschwächeren Regionen junge Leute immer noch die Finger wundschreiben, um eine Ausbildung zu bekommen. Da organisieren wir Mobilitätshilfen und setzen auch auf den Bau von Azubi-Wohnheimen. Denn in bestimmten Ballungszentren können sich Auszubildende das Wohnen nicht mehr leisten. In den strukturschwachen Regionen, in denen alle Register gezogen wurden und es nichts genutzt hat, werden wir drittens dann auch einen Rechtsanspruch auf außerbetriebliche Ausbildung schaffen.

    Wer bezahlt eine solche überbetriebliche Ausbildung?

    Heil: Finanziert wird das von der Bundesagentur für Arbeit und in Abstimmung mit Wirtschaft und Gewerkschaften aufgebaut. Wir haben das im Bundeskabinett beschlossen. Daneben geht es auch um Instrumente der Weiterbildungsförderung, um Beschäftigten von heute auch die Chance zu geben, die Arbeit von morgen machen zu können. Ich will, dass Deutschland eine Weiterbildungsrepublik wird. Das ist auch ein Beitrag zur Fachkräftesicherung.

    Mit Beginn des Jahres ist Hartz-IV vom Bürgergeld abgelöst worden, das nicht nur höhere Leistungen vorsieht, sondern eben auch mehr Bildungsangebote, um Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit rauszuholen. Welchen Effekt erwarten Sie?

    Heil: Das Bürgergeld hat zwei Ziele. Zum einen sichern wir Menschen verlässlich ab, die in existenzielle Not gekommen sind. Aber das oberste Ziel ist, Menschen aus der Bedürftigkeit in Arbeit zu bringen. Und da gehen wir ganz neue Wege, denn zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen haben keine Ausbildung. Im Gegensatz zum alten System vermitteln wir diese Menschen nicht mehr kurzfristig in irgendwelche Hilfstätigkeiten und sehen sie nach ein paar Wochen wieder im Jobcenter. Wir setzen stattdessen auf Ausbildung statt Aushilfsjobs und wollen ihnen durch Berufsabschlüsse die Chance geben, dauerhaft in Arbeit zu kommen. Diese zweite Phase des Bürgergelds tritt zum 1. Juli in Kraft. Dazu gehören neue Kooperationsvereinbarungen zwischen Jobcenter und betroffenen Menschen, aber auch Entbürokratisierung und starke Anreize. Wenn jemand einen Berufsabschluss nachholt, soll sich das lohnen, möglich sind bis zu 150 Euro mehr im Monat.

    Ein Kritikpunkt an den höheren Sätzen des Bürgergeldes war und ist ja, dass es sich nicht lohne, zu niedrigen Löhnen Vollzeit zu arbeiten, denn bei Arbeitslosen bezahlt der Staat ja auch noch Wohnung, Heizung und Krankenversicherung. Was ist dran am Vorwurf?

    Heil: Mir ist wichtig, dass Arbeit sich immer lohnt. Deshalb haben wir im letzten Jahr den Mindestlohn deutlich erhöht. Und er wird sich auch weiterentwickeln. Aber der Mindestlohn bleibt eine Untergrenze. Vor allen Dingen brauchen wir mehr Tarifbindung, denn da, wo Tarifverträge gelten, sind in der Regel die Löhne und Arbeitsbedingungen besser. Deshalb haben wir uns vorgenommen, öffentliche Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen zu geben, die Menschen nach tariflichen Bedingungen entlohnen.

    Die Kritik, dass möglicherweise die Anreize zur Aufnahme von Arbeit zu niedrig sind in Deutschland, fällt immer wieder im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit von Geflüchteten, die teilweise niedriger ausfällt als in vergleichbaren Ländern. Wie könnten diese Menschen besser in den Arbeitsmarkt integriert werden?

    Heil: Hier sind wichtige Entscheidungen getroffen worden, um ukrainische Geflüchtete, die arbeiten können, auch in Arbeit zu bringen. Die Praktiker berichten mir in der Regel von ganz einfachen Grundvoraussetzungen. Zugang zur Sprache etwa, den viele der Geflüchteten aus der Ukraine gerade in Integrationssprachkursen bekommen. Auch ganz praktische Fragen der Kinderbetreuung stellen sich, da viele der Geflüchteten aus der Ukraine ja Frauen mit Kindern sind. Und wir müssen in der Berufsanerkennung besser werden. Im Schnitt sind Geflüchtete aus der Ukraine gut qualifiziert. Aber wir haben ein sehr, sehr komplexes System der Anerkennung von Abschlüssen. Hier ist meine Erwartung an Bund und Länder, dass wir besser und schneller werden.

    Im Juni wollen sie nach Brasilien reisen, um dort Pflegekräfte anzuwerben. Werden Sie da eigentlich ganz schonungslos ehrlich sein und sagen, in Deutschland sind die Wohnungen knapp, Heizen und Elektrizität so teuer wie nirgends sonst und die Bedingungen in der Pflege so kräftezehrend, dass hier viele irgendwann aufgeben?

    Heil: Erstens möchte ich klarstellen, dass ich nicht nach Brasilien fahre, um einen Flieger vollzupacken und Pflegekräfte mitzubringen. Es geht um faire Zuwanderung aus Ländern mit einer relativ jungen Bevölkerung, die zu einer Win-Win-Situation für die Länder, die Menschen und für uns führt. Wir müssen im Inland alle Register ziehen, aber wir brauchen auch ergänzende qualifizierte Zuwanderung aufgrund der Demografie des Arbeitsmarktes. Deshalb schaffen wir das modernste Einwanderungsrecht Europas. Wir haben gute Gründe, mit denen wir in der Welt um kluge Köpfe und helfende Hände für unser Land werben können. Ich war gerade bei einem Turbinenhersteller mit 2000 Beschäftigten aus 50 Nationen und habe mich bei denen erkundigt, warum sie nach Deutschland gekommen sind. Da erfährt man viel Gutes über unser Land. Da war eine Technikerin aus China, die gesagt hat, wir haben einzigartige Fortbildungsmöglichkeiten, das sei der Grund, warum sie nach Deutschland gekommen ist. Da war jemand aus Spanien dabei, der gesagt hat, hier gibt es gute und geregelte Arbeitsverhältnisse.

    Aber wie sollen die Zuwanderer denn alle bezahlbare Wohnungen finden, das ist doch jetzt schon ein großes Problem?

    Heil: Das Thema Wohnen ist eine gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern, Kommunen, übrigens auch der Wirtschaft. Mir hat Michael Vassiliadis, der heutige Vorsitzende der Gewerkschaft IGBCE, berichtet, wie sein Vater in den 1960er Jahren angeworben wurde, aus Griechenland nach Deutschland zu kommen. Und das Unternehmen, das ihn geworben hat, hat ihm gesagt, mach dir keine Sorgen, wir haben dir auch Wohnraum besorgt.

    In vielen Städten gibt es historische Werkssiedlungen, etwa die Siemensstadt in Berlin. Brauchen wir eine neue Offensive für solche Wohnmodelle?

    Heil: Im Wettbewerb um Fachkräfte kann das für Unternehmen ein Vorteil sein. Ich weiß, dass es für kleine und mittelständische Unternehmen kein einfaches Thema ist. Aber warum sich nicht auch unternehmensübergreifend für solche Initiativen zusammenschließen, warum nicht zwischen Wirtschaft und Kommunen gemeinsame Ansätze finden? Ich glaube, dass da viel geht, dass wir da Kreativität brauchen.

    Schlummernde Potenziale auf dem Arbeitsmarkt gibt es ja auch im Inland, bei Frauen und älteren Menschen etwa. Wie lässt sich deren Erwerbsbeteiligung verbessern?

    Heil: Die Potenziale im Inland liegen auf der Hand. Viele Frauen arbeiten auch ungewollt Teilzeit, das ist eine Frage von Kinderbetreuung, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wenn es gelänge, im Arbeitszeitvolumen bei den Frauen um zehn Prozent besser zu werden, entspräche das 500.000 qualifizierten Arbeits- und Fachkräften, die wir schon in Deutschland haben. Nicht unterschätzt werden darf die Beschäftigungsfähigkeit Älterer. Leider gibt es einige Unternehmen, die bis heute gut qualifizierte 60-Jährige, die gesund sind, zum alten Eisen packen. Aber immer mehr Unternehmen erkennen das Potenzial von erfahrenen Beschäftigten und die Erwerbsbeteiligung Älterer steigt an.

    Viele Menschen klagen über eine zunehmende Verdichtung der Arbeit und wünschen sich eine Vier-Tage-Woche. Was spräche dagegen?

    Heil: Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeit besser zu den jeweiligen Lebensphasen passt. Dass wir in einer modernen Arbeitswelt mit digitalen Möglichkeiten flexibler auf die Bedürfnisse von Menschen eingehen, um Familie, Beruf miteinander besser zu vereinbaren, finde ich richtig. Was ich nicht richtig finde, ist eine Schablone für alles. Ich habe Unternehmen erlebt, bei denen eine Vier-Tage-Woche aus unterschiedlichen Gründen sehr gut klappt. Aber ich halte es nicht für eine Blaupause für alle Branchen und Jobs in Deutschland, sondern für eine Option von vielen.

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