Was in diesen Stunden im Kopf von Aviva Siegel vor sich geht, dürfte sich kaum ein Außenstehender ausmalen können. Angst, Hoffnung, Verzweiflung, Glaube – ein Gemisch, das seit mehr als einem Jahr in ihr gärt und nun von großer Euphorie überschwemmt werden könnte. Siegel ist eine Frau Mitte 60, wilde graue Locken, Brille. Der Schmerz, der sie plagt, ist ihr anzusehen. 51 Tage befand sich die Israelin in Geiselhaft der Hamas, die Terroristen waren am 7. Oktober 2023 in ihr Kibbuz Kfar Aza gekommen, hatten sie in den Gazastreifen verschleppt. Siegel entkam, weil die Regierung einen Deal mit der Hamas geschlossen hatte, doch ihr Mann Keith blieb in den Tunneln seiner Häscher gefangen. Bis jetzt.
Denn der Name Keith Samuel Siegel steht auf der Liste der 33 Menschen, die in der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens freikommen sollen – nach 470 Tagen. Ob alle 33 Geiseln – Frauen und Kinder sowie Männer über 50 – noch am Leben sind oder ob die Hamas von manchen nur den Leichnam übergeben wird, ist unklar. An diesem Sonntag wird Aviva Siegel zumindest Gewissheit haben. Mit der Freilassung der ersten Geiseln wird demnach ebenfalls am 19. Januar gerechnet. Israelischen Medien zufolge könnte dies um 16.00 Uhr Ortszeit (15.00 Uhr MEZ) passieren.
98 Geiseln befinden sich noch in der Gewalt der Hamas
Insgesamt 98 Geiseln befinden sich noch in der Gewalt der Hamas. Experten fürchten, dass viele inzwischen gestorben sind. Sie sollen in den weiteren Phasen des Abkommens übergeben werden. Die Geiselfrage belastet die israelische Gesellschaft schwer. Die Angehörigen und ihre Unterstützer demonstrieren seit Monaten, um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unter Druck zu setzen. Jetzt ist ihre Sorge, dass der Deal, der auf wackligen Füßen steht, doch noch kippt. Das israelische Sicherheitskabinett hatte sich am Freitag mit einem Tag Verspätung zu Beratungen zusammengesetzt und dem Abkommen schließlich zugestimmt – vor allem Benjamin Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner hatten sich dagegengestellt.

Unterdessen bereiten sich israelische Kliniken auf die Rückkehr der Geiseln vor. Um zumindest vage einschätzen zu können, in welcher Verfassung diese Menschen sein werden, greifen Ärzte und Psychologen auf die Erfahrungen jener 110 Menschen zurück, die im Rahmen des ersten Abkommens Ende 2023 freigekommen sind. „Im Schnitt hatten die Geiseln am Tag 300 Kalorien konsumiert, ein Fünftel von dem Bedarf eines Erwachsenen“, berichtet Amir Blumenfeld, Facharzt für Kinderchirurgie und Mitglied des medizinischen Teams des Forums der Familien Entführter. Auch der lange Aufenthalt in Tunneln beeinträchtige den menschlichen Körper. „Wie sich herausgestellt hat, nimmt jedes System im Körper Schaden: das Gehirn, das Herz, die Lungen, die Muskeln, die Knochen, das Verdauungssystem“, sagt Blumenfeld. „Der wichtigste Faktor dabei ist die Zeit. Nach ein paar Wochen passiert nichts Ernstes. Aber nach 15 Monaten rechnen wir mit vielen Krankheiten, körperlichen und seelischen, und zwar bei jeder einzelnen Geisel. Es spielt keine Rolle, in welcher Verfassung sie vor der Entführung waren: Inzwischen ist jede von ihnen in einem fürchterlichen Zustand.“
Viele Rückkehrer leiden bis heute
Während die meisten befreiten Geiseln 2023 nach wenigen Tagen entlassen werden konnten, rechnet Blumenfeld damit, dass dieses Mal längere Aufenthalte im Krankenhaus erforderlich sein werden. Alle Rückkehrer werden zunächst eine Reihe von Untersuchungen durchlaufen, jüngeren Frauen sollen außerdem einen Schwangerschaftstest machen – schließlich ist davon auszugehen, dass viele der Geiseln sexuell missbraucht worden sind.
Ein Bericht, der im Dezember veröffentlicht worden ist, gibt außerdem einen Eindruck von den seelischen Leiden, die die 2023 befreiten Geiseln bis heute belasten. Manche der Rückkehrer sind demnach extremen Stimmungsschwankungen ausgesetzt, andere leiden unter „paranoiden Ängsten“. Selbst jene, „die anfangs stark erschienen, zeigen Schwierigkeiten, sich an die Realität zu gewöhnen“, heißt es dort. Die Diagnosen beziehen sich auf Menschen, die nach wenigen Wochen befreit worden sind.
Der Arzt Amir Blumenfeld geht deshalb auch davon aus, dass sich die seelischen Leiden der Rückkehrer am schwersten werden lindern lassen. „Physisch und medizinisch können wir sehr gute Ergebnisse erzielen“, glaubt er. „Aber wir gehen davon aus, dass die mentale Erholung das gesamte restliche Leben dauern wird.“
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