Wo noch vor wenigen Stunden die Pekinger ihre Freiheit forderten, demonstriert nun der Staatsapparat seine Macht: Entlang des Liangma-Flusses parkt alle 20 Meter ein Polizeiauto mit leuchtenden Sirenen. Sicherheitskräfte drehen während dieser bitterkalten Novembernacht ihre Runden, unzählige Staatsmänner in Zivil sind an den umliegenden Straßenkreuzungen positioniert. Die ersten landesweiten Proteste in China seit den 1990er Jahren hatten Staatschef Xi Jinping vor ein Dilemma gestellt: Soll die Regierung, die sich nach außen hin keine Schwäche erlauben will, mit Kompromissen auf das demonstrierende Volk zugehen? Oder greift sie erneut zu massiven Repressionen an, so, wie sie es in den letzten Jahren wiederholt getan hat?
Die Antwort ist eindeutig. Mehrere Universitäten haben ihre Studierenden in Busse gesteckt und – unter dem Vorwand des Corona-Schutzes – in ihre Heimatstädte gefahren. In Shanghai stoppten die Sicherheitskräfte ohne Vorwarnung Passanten, um ihre Smartphones zu überprüfen: Sämtliche „sensible“ Fotoaufnahmen oder westliche Messenger-Dienste mussten umgehend gelöscht werden. Wer sich weigerte, wurde abgeführt.
Mittels Big Data und Überwachungskameras forscht die Staatssicherheit nach Teilnehmern der friedlichen Proteste. Das hat Folgen. „Ich rechne in den nächsten Tagen nicht mit vielen groß angelegten Protesten – die Regierung hat ausreichend Durchsetzungskraft, um diese zu verhindern“, kommentiert Taisu Zhang, Professor für Rechtswissenschaften und Geschichte an der Yale-Universität, auf Twitter: „Aber den chinesischen sozialen Medien nach zu urteilen, ist der Verlust des politischen Vertrauens in der Bevölkerung ziemlich weit verbreitet und wahrscheinlich nachhaltig.“
China will seine Impfkampagne intensivieren
Aus Protest gegen die Null-Covid-Maßnahmen wie Ausgangssperren, zwangsweise Isolation, Testpflicht oder ständige Kontrolle über Corona-Apps gingen am Wochenende in mehreren Städten Tausende auf die Straßen. In Peking riefen sie „Hebt den Lockdown auf“ und „Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit“. Der Unmut hat sich auch verstärkt, weil China gerade die größte Corona-Welle seit Beginn der Pandemie vor knapp drei Jahren erlebt. Die Zahlen sind im internationalen Vergleich zwar nicht hoch, doch sind die Auswirkungen durch die strikten Maßnahmen enorm: Ein Fünftel der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft – also hunderte Millionen Menschen – dürften landesweit von Lockdowns betroffen sein.
Um die Wut zu dämpfen, hat der Staatsrat am Dienstag eine Pressekonferenz einberufen. Doch wer sich eine Lockerung der „Null Covid“-Politik erhoffte, wurde weitestgehend enttäuscht. Immerhin spricht die Regierung nach langer Zeit nun endlich wieder von einer Impfkampagne. „Wir sollten die Impfung gegen Covid-19 beschleunigen, insbesondere bei älteren Menschen“, sagte Mi Feng, Sprecher der Pekinger Gesundheitskommission – und signalisierte zumindest mittelfristig eine Öffnung des Landes. Aus Angst vor Nebenwirkungen wurden Ältere in dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land bislang seltener geimpft. So bekamen erst 40 Prozent der Menschen über 80 Jahren eine Booster-Spritze, wie die Gesundheitskommission berichtete. Dies könnte nach Einschätzung von Experten bei einer unkontrollierten Corona-Welle zu vielen Opfern führen. Fortschritte wären eine wichtige Voraussetzung für eine Lockerung.
Vor allem die jungen Chinesen wollen Freiheit
Viele Demonstranten werden sich allein durch eine Lockerung der Pandemie-Maßnahmen wohl ohnehin nicht zufriedenstellen lassen. Speziell die jungen Menschen erwarten sich eine Öffnung der Gesellschaft, mehr Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und politischen Wandel. Der Staatsapparat kann die Protestbewegung aktuell zwar mit Polizeigewalt und Einschüchterung unterdrücken, nicht jedoch die Gründe für den Volkszorn auflösen. Immer deutlicher wird, dass die Null-Covid-Strategie sich als Sackgasse erweist. Schon Ende 2020 rief die Regierung den „Sieg über das Virus“ aus. Spätestens mit der hochansteckenden Omikron-Variante ist die Pandemie mit aller Wucht zurückgekehrt. Die Volksrepublik China hatte es versäumt, die Zeit der Nullinfektionen für eine Impfkampagne zu nutzen oder die Anzahl an Notfallbetten in den Krankenhäusern zu erhöhen. Stattdessen flossen finanzielle Ressourcen in tägliche Massentests und Quarantänezentren.
Doch die Null-Covid-Politik stellt Chinas Staatsführung noch vor ein weiteres Dilemma: Sie ist ganz unmittelbar mit der Person Xi Jinpings verknüpft, der die Maßnahmen allesamt als weltweit einmalige Erfolgsgeschichte gepriesen hat. Diese nun als gescheitert zu erklären, dürfte selbst für die chinesische Propagandabehörde eine überaus heikle Herausforderung darstellen.