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Foto: Dmitri Lovetsky, AP/ dpa
Foto: Dmitri Lovetsky, AP/ dpa

Ein in Russland festgenommener Demonstrant zeigt aus einem Polizeibus ein Schild mit der Aufschrift „Kein Krieg!“.

Krieg in der Ukraine
07.03.2022

Eindrücke aus Moskau: "Es wird dunkel in Russland"

Plus Viele Russen sagen, Putin mache schon alles richtig. Sanktionen des Westens würden sie nicht so hart treffen. Und trotzdem bilden sich vor Apotheken lange Schlangen.

Anastasia Piwowarowa rennt. Schnell noch zu diesem Schrank und dann zu einem anderen. „Wie hieß das Medikament noch mal? Ach ja, habe ich verstanden.“ Die Schlange vor ihr wird immer länger, die Frau an der Kasse rattert die Namen von Tabletten, Sirups und Salben herunter. Aus französischer, schwedischer, ungarischer Produktion. Herzmedikamente, Magentabletten, Päckchen mit Pulver. Anastasia Piwowarowa packt alles in eine Tüte, reicht sie der Frau in schwarzem Mantel und schwarzer Mütze vor ihr. „Der Nächste, bitte.“

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In Russland herrscht Angst vor Versorgungsengpässen

In der Apotheke „36,6“ im Moskauer Westen wird die Schlange seit zwei Tagen nicht kürzer. Die Menschen, vor allem diejenigen, die an chronischen Krankheiten leiden, geben teils ihre Monatsgehälter dafür aus, um sich mit Medikamenten einzudecken. Anastasia Piwowarowa, die Apothekerin, sagt: „Unser Lager ist voll, aber wie lange noch?“ Nie in ihrem Arbeitsleben, sagt sie, habe sie einen solchen Kundenstrom erlebt. Sie mache keine Pause, arbeite mit ihrer Kollegin zehn Stunden durch. Die junge Frau rät jedem, der an der Kasse vor ihr steht: „Wenn Sie regelmäßig Tabletten einnehmen müssen, kaufen Sie jetzt so viel wie möglich.“ Die Angst ist groß, dass sich durch die Sanktionen des Westens gegen Russland die Versorgung der Menschen verschlechtert. Gerade, was die mit Medizin betrifft. Und sie ist berechtigt.

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Foto: Vlad Karkov, Sopa Images via Zuma Press Wire/dpa
Foto: Vlad Karkov, Sopa Images via Zuma Press Wire/dpa

Überall in Moskau sind Schlangen zu sehen. Diese Menschen wollen an einem Geldautomaten US-Dollar abheben.

Bereits jetzt melden sich Ärzte, die aufzählen, wie viel importierte Medikamente sie noch auf Lager hätten und für wie lange diese reichten. Eine Krebspatientin, die gerade vor einer Knochenmarktransplantation steht, sagt: „Ich hoffe, für meine Behandlung haben die Ärzte noch alles da. Unser Präsident tötet nicht nur andere, er tötet auch sein eigenes Volk.“

ARD und ZDF berichten nicht mehr aus Moskau

Es sind harte wie klare Worte einer Frau, die für ihre Behandlungen stets in die Hauptstadt reisen muss. An ihrem Wohnort, zwei Tage Zugfahrt von Moskau entfernt, gibt es keine Möglichkeit für eine entsprechende Therapie. Für solche Worte gibt es in diesen Tagen in Russland kaum Raum. Würde die Frau sie öffentlich äußern, würde sie von den meisten im Land als Verräterin beschimpft werden. Sie könnte nun auch bestraft werden, weil sie ihr Land „diskreditiert“.

Die russische Staatsduma hat am Freitag einstimmig und in aller Eile ein Gesetz angenommen, das „Fake News“ mit bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug ahndet. Dies gilt auch für ausländische Bürgerinnen und Bürger. Damit ist jetzt die Arbeit von Medienleuten aus anderen Ländern direkt gefährdet. ARD und ZDF etwa haben deshalb beschlossen, wie viele andere internationale Medien auch, ihre Berichterstattung direkt aus Russland einzustellen.

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Fake News sind im Verständnis russischer Parlamentarier und auch im Verständnis von Präsident Wladimir Putin, wenn von Krieg in der Ukraine gesprochen oder geschrieben wird. Denn einen solchen gibt es aus ihrer Sicht nicht. Fake News sind, wenn Medien über getötete Zivilisten berichten. Wenn sie Bilder und Fotos von zerstörten Wohnvierteln quer durch die Ukraine zeigen. Wenn die Menschen die russische Armee schlecht machen und zu Sanktionen aufrufen.

Es soll nur das Bild der glorreichen russischen „militärischen Spezialoperation“ geben

Unabhängige russische Medien haben nun Konsequenzen daraus gezogen. Manche, wie der Online-Sender Doschd, haben ihre Arbeit vorerst eingestellt. Andere, wie der kremlkritische Radiosender Echo Moskwy, wurden geschlossen. Die restlichen, Online-Medien wie Meduza, Znak oder The New Times können nicht mehr publizieren. Bereits am Freitag wurden auch Twitter und Facebook von Moskau blockiert.

Es soll nur ein Bild vermittelt werden: das der glorreichen russischen „militärischen Spezialoperation“, wie der Kreml den Einsatz in der Ukraine nennt. „Unsere Truppen kommen exakt und schnell voran“, sagt die Moderatorin in den Abendnachrichten des Staatssenders Erster Kanal. Dazu liefert der Beitrag Bilder aus Kiew: entspannt spazierende Menschen auf den Straßen, voll besetzte Cafés, lachende Kinder. Ein nächster Beitrag zeigt Putin, wie er den „Heroismus unserer Soldaten“ lobt und an die Familien verletzter und getöteter russischer Militärangehöriger in der Ukraine umgerechnet bis zu 100.000 Euro zahlen will. Woher das Geld kommen soll, sagt er freilich nicht.

Der Rubel verliert derweil weiter an Wert. Die US-amerikanischen Ratingagenturen Fitch und Moody’s haben die Kreditwürdigkeit von Russland auf Ramschniveau abgesenkt. Die beiden weltgrößten Kreditkartenanbieter, Visa und Mastercard, setzten zudem ihre Geschäfte in Russland aus. Visa werde mit Kunden und Partnern in Russland zusammenarbeiten, „um alle Visa-Transaktionen in den kommenden Tagen einzustellen“, teilte das Unternehmen am Samstag mit. Danach würden in Russland ausgestellte Karten nicht mehr im Ausland funktionieren. Kreditkarten, die von Finanzinstituten außerhalb des Landes ausgestellt wurden, könnten in Russland nicht mehr eingesetzt werden. Mastercard kündigte identische Schritte an.

Menschen in Moskau stehen vor einer ungewissen Zukunft

Russlands größte Bank – die Sberbank – will auch nach der Abschaltung der Kreditkarten von Visa und Mastercard absichern, dass die Menschen mit ihren Karten bezahlen und Geld abheben können. Wer aber im Ausland lebe, solle jetzt noch rasch Geld mit den Karten abheben oder größere Ausgaben bezahlen, bevor die Systeme nicht mehr funktionierten, teilte die Bank am Sonntag mit. Die mit dem Logo Mir versehenen Geldkarten sollen den Angaben zufolge aber noch weiter in der Türkei, in Zypern und in einigen anderen Ländern funktionieren, hieß es.

Den Menschen auf den Moskauer Straßen macht das durchaus Sorgen. Zudem beunruhigen sie die Nachrichten von geschlossenen Ikea-Läden, geschlossenen H&M-Geschäften, geschlossenen Apple-Stores. Das zeigt ihnen, wie ungewiss die Zukunft ist.

„Sollen wir lieber jetzt noch alles mögliche kaufen oder unser Geld doch lieber für spätere, schlechtere Zeiten behalten?“, fragt eine ältere Frau, die als Putzfrau arbeitet. Dass es schlecht wird, davon ist sie überzeugt. „Doch wie schlecht?“, sagt sie und versucht, sich sogleich selbst zu beruhigen. „Wir haben seit dem Zerfall der Sowjetunion schon so einige Brüche erlebt, haben sie überlebt, sind auf die Beine gekommen. Dann soll uns der Westen halt weiterknechten, wir werden es schaffen. Irgendwie.“

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Das Phantom des bösen Westens, das das großartige Russland mit all seinen besonderen Werten, der Kultur, der wunderbaren Landschaft zerstören und in die Knie zwingen wolle, es lebt in vielen Köpfen der Menschen im Land. Die, die das hinterfragen, sind in diesen Tagen wie paralysiert. Geschockt von dem, was ihr Land einem anderen Land antue. Was es fremden und eigenen Bürgern antue. Dass es die Sicherheit eines jeden in der Welt bedrohe.

Angespannte Ruhe in der Hauptstadt

„Ich sehe einfach keinen Sinn mehr darin, mich noch irgendwie anzustrengen. Ich will einfach auf meine Datscha ziehen und Tomaten züchten, Selbstversorger sein. Das Geld, das ich mit meinen Firmen gemacht habe, sollte dafür reichen“, sagt etwa ein Moskauer Kleinunternehmer. Er macht sich Sorgen um seine drei Söhne, die in die Armee eingezogen werden könnten. Seine Frau habe dem Mittleren geraten, bloß nicht zurückzukehren. In Ägypten unterrichtet dieser derzeit Englisch für Kinder.

Bei einem Spaziergang durch die Hauptstadt zeigt sich eine angespannte Ruhe. Die Menschen schlendern durch die Parks, sie passen auf ihre Kinder auf den Spielplätzen auf, sie eilen zur Arbeit. Kaum einer will seinen Namen nennen, wenn er auf Fragen antwortet. Auf Gespräche lassen sich Männer wie Frauen lediglich nach der Zusicherung von Anonymität ein. Sie wissen, sie müssten Position beziehen und sind sich nicht sicher, ob nun das, was sie sagen, sich auf ihr Leben, ihre Arbeit auswirken könnte. Zumal, wenn es vielleicht in einer ausländischen Zeitung erscheint.

„Sorgen? Was für Sorgen soll ich schon haben? Unser Präsident macht alles richtig, den Nazis in der Ukraine musste man es endlich mal zeigen“, sagt ein mittelalter Mann mit kurzem Haar im Elektronikgeschäft eines Einkaufszentrums. Der Name der Mall: „Europäisch“. Direkt daneben: der Europa-Platz.

„Es wird dunkel in Russland“

Der Mann schaut sich riesige Bildschirme an, vergleicht die Preise und wiederholt das Narrativ, das in Russland staatstragend ist: Die Ukraine sei kein eigener Staat, die Ukraine begehe „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung, in der Ukraine gebe es keinen Krieg. Die meisten laufen ohnehin weiter, sobald sie auf die Ereignisse in ihrem Nachbarland angesprochen werden. Oder sie sagen: „Ich bin für Putin, voll und ganz.“ Mehr sagen sie nicht. „Mit den Sanktionen schadet sich der Westen selbst. Sie sind ein Schuss ins eigene Knie“, heißt es in den staatlichen Nachrichten.

„Die Sanktionen betreffen natürlich auch mich“, sagt ein 31-Jähriger am Kiewer Bahnhof in Moskau. „Wie soll ich denn überhaupt noch reisen, die Welt kennenlernen? Das habe ich immer gern gemacht, alles vorbei, auf Jahre hinaus wohl.“ Hier am Bahnhof fährt längst kein Zug mehr in die Ukraine.

„Es wird dunkel in Russland“, sagt eine 40-Jährige am Telefon. Tagelang hätten ihr Mann und sie kaum geschlafen, hätten schließlich die Koffer gepackt, ihre beiden Mädchen ihre Lieblingsspielzeuge mitnehmen lassen – und seien raus aus dem Land. Erst mal zu Arbeitskollegen in Zentralasien. „Und dann schauen. Wir müssen erst mal zu uns kommen. Das, was hier passiert, ist nicht mehr das, was wir als unser Land bezeichnen können.“

Zum Schutz des Autoren, der sich derzeit in Russland aufhält und dieses Stimmungsbild für unsere Redaktion verfasste, haben wir diese Zeilen anonymisiert.

Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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