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Verfassungsgeschichte: Die andere deutsche Verfassung

Verfassungsgeschichte

Die andere deutsche Verfassung

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    Die Verfassung der DDR: Dem Papier nach hatten die Bürger viele Freiheiten.
    Die Verfassung der DDR: Dem Papier nach hatten die Bürger viele Freiheiten. Foto: Christian Grimm

    Vier Tage war der Staat alt, als wieder ein Fackelmarsch durch Berlin zog. Am 11. Oktober 1949 paradierte die Freie Deutsche Jugend durch die Ruinen der im Kriege zerbombten Hauptstadt. Die sowjetischen Besatzer hatten Bedenken. Fackeln in Neues Deutschland sprach von „Friedensfackeln“. 

    Dieses neue Deutschland hatte am 7. Oktober Geburtstag. „In einer Atmosphäre, die vom Bewußtsein des historischen Augenblickes erfüllt war, konstituierte sich am Freitagnachmittag 17.30 Uhr im großen Festsaal des Hauses der DKW (Deutschen Wirtschaftskommission) die Provisorische Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik“, schrieben die Zeitungen in dem Teil Deutschlands, der bis dahin schlicht Ostzone hieß. „Die Provisorische Volkskammer nahm einstimmig ein Gesetz an, durch das die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft gesetzt wird.“ 

    DDR-Verfassung: Erster Entwurf von Karl Polak

    Auf diese Verfassung hatten Ulbricht und die anderen Mächtigen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) lange hingearbeitet. Bereits im Mai des Jahres 1946 – der Krieg war gerade ein Jahr vorbei – hatten sie einen ersten Entwurf von dem Juristen Karl Polak ausarbeiten lassen. 123 Artikel waren in neun Abschnitte gegliedert. Als Vorbild dienten die Verfassungen der Weimarer Republik und des Paulskirchenparlamentes. 80 Artikel der 123 wiesen Ähnlichkeiten mit den beiden älteren Konstitutionen auf. 

    Es war kein Entwurf allein für die östliche Besatzungszone. Nach dem Willen des Sowjetherrschers Josef Stalin sollte die SED die Führungsrolle in einem selbstverwalteten Nachkriegsdeutschland übernehmen. Wegen der bald einsetzenden Blockkonfrontation zwischen den Weltmächten UdSSR und USA und den gänzlich verschiedenen politischen Systemen, für die sie standen, sollte Deutschland auseinandergerissen werden. Doch noch der finale Entwurf des Verfassungstextes aus dem Frühjahr 1949 zeigt auf dem Titelbild das ganze Deutschland (ohne die verlorenen Ostgebiete). 

    Dem Papier nach war die DDR ein freies Land, die Realität sah anders aus

    Dem schließlich am 7. Oktober angenommen Text nach lebten die DDR-Bürger in einem freien Land. Artikel 3: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Artikel 8: „Persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und das Recht, sich an einem beliebigen Ort niederzulassen, sind gewährleistet.“ Artikel 9: „Alle Bürger haben das Recht, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern und sich zu diesem Zweck friedlich und unbewaffnet zu versammeln.“ 

    Die Verfassungswirklichkeit in der DDR war jedoch eine andere. Ulbricht hatte schon 1945 gesagt: "Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben." Der Leipziger kehrte zum Kriegsende aus dem sowjetischen Exil zurück. Seine hohe Fistelstimme, der Singsang seiner sächsischen Heimat und der Spitzbart haben ihn zum Gespött gemacht. 

    Ulbricht war nicht gerade beliebt

    Doch Ulbricht ist anders, ganz anders. Das zeigt die neue Biographie des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk. Seit den 1920er-Jahren Berufsrevolutionär der Kommunisten im Leninschen Sinne und ausgestattet mit ungemeinem Ehrgeiz und beeindruckender Disziplin, ackert Ulbricht für seine Vision einer Gesellschaft der Gleichen. Seine Arbeitstage hatten zwischen 16 und 18 Stunden. Er war schroff und nicht gerade beliebt. „Er kann jedes beliebige politische Manöver konspirativ durchführen und es auch geheim halten. Aber Ulbricht persönlich vertraut man nicht. Bei Formulierungen ist er präziser als sonst jemand, und er versteht mehr als andere“, urteilt der hohe Offizier der sowjetischen Militäradministration in Deutschland, Sergei Tjulpanow, über Moskaus Mann in Deutschland. 

    Demokratisch sollte es aussehen. Die Verfassung gibt sich auch diesen Anschein. Ihre Rolle ist aber eine andere als die des Grundgesetzes in Westdeutschland. Sie ist nicht herausgehoben, sie ist ein Gesetz wie jedes andere, sie bindet nicht die Gewalten des Staates. „Sie ist nie als die Quelle allen anderen Rechts verstanden worden“, sagt der Rechtshistoriker Adrian Schmidt-Recla von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Der Professor leitet die dortige Forschungsstelle DDR-Recht. Direkt nach der Wiedervereinigung studierte er Rechtswissenschaft in Leipzig, die von Ulbricht maßgeblich geschaffene DDR war nicht mehr da, in der Schmidt-Recla aufgewachsen war. „Im Verständnis der SED ist Recht ein Machtmittel. Es gibt kein Recht außerhalb des Staates“, sagt er. Will heißen, der Einzelne hat keine unveräußerlichen Rechte wie Selbstbestimmung und Freiheit, die ihm allein dadurch zustehen, dass er ein Mensch ist.

    Der Charakter des bloßen Instrumentes gilt auch für die Verfassung. Schon drei Jahre nach ihrem Beschluss wird ihr Gewalt angetan. Ulbricht schafft die ostdeutschen Länder ab und führt die Zentralverwaltung nach sowjetischem Vorbild ein, obwohl die DDR laut Verfassung ein föderaler Staat ist. Jetzt soll die sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden, wozu er die Arbeitsnormen anheben lässt. Am 17. Juni 1953 sind die Arbeiter kurz davor, ernst zu machen mit einer wahren Republik der Arbeiter. Der Volksaufstand bringt das Regime an den Rand des Zusammenbruches, russische Panzer retteten Ulbrichts Macht. 

    1989 kommt die Wende: Die Bürger wollen eine andere Verfassungswirklichkeit

    14 Jahre später regt der Erste Sekretär des Zentralkomitees die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an, die SED hatte den Aufstand der Arbeiter überlebt und den Massenexodus Richtung Westen dadurch gestoppt, dass sie das Volk einmauerte. Die sozialistische Gesellschaft war errichtet, dem muss jetzt auch die Verfassung Rechnung tragen, die 1968 beschlossen wird. Artikel 1: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“ 

    Zum 25. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1974 sollte die Verfassung „in volle Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ gebracht werden, wie es offiziell heißt. In der dritten DDR-Verfassung werden alle Bezüge zur Einheit Deutschlands getilgt, die Wiedervereinigung als Ziel aufgegeben. Es waren dann die Werktätigen, die 1989 zu Bürgern werden und eine andere Verfassungswirklichkeit wollen. Es ist das Ende des Machtanspruchs ihrer „marxistisch-leninistischen Partei“.

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