
Herr Professor Wirsching, was weiß man darüber, wie sich die Nachricht von der Kapitulation am 8. Mai 1945 für die geschlagenen Deutschen angefühlt hat?
ANDREAS WIRSCHING: Die Erinnerung an diesen Tag ist sehr fragmentiert. Wenn man ein Grundempfinden hervorheben will, dann ist es sicher Erleichterung, dass der Krieg zu Ende ist – bei all jenen zumindest, die nicht mit Verfolgung rechnen mussten. Für überzeugte Nazis und nationalsozialistische Funktionsträger bedeutet die Kapitulation natürlich Verbitterung und Zukunftsangst. Es gab sehr zahlreiche Suizide.
Die einen nennen das Datum aus deutscher Sicht Stunde Null, andere Niederlage, wieder andere Befreiung. Wozu tendieren Sie?
WIRSCHING: Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Am Ende lande ich immer wieder beim Zitat des früheren Bundespräsidenten Theodor Heuss, das ich nach wie vor für sehr treffend halte: „Wir waren vernichtet und erlöst zugleich.“ Dass es sich um eine Befreiung handelte, war ursprünglich ein Narrativ der DDR. In der alten Bundesrepublik begann sich diese Einordnung erst in den 80er Jahren durchzusetzen, nicht zuletzt auch durch die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation. Aber nehmen Sie Flüchtlinge oder Ausgebombte, die das Kriegsende nur schwer als Befreiung empfinden konnten – das sollte nicht weggeredet werden. Aber es bleibt eine unumstößliche Tatsache, dass es die Deutschen nicht geschafft haben, sich selbst von der NS-Gewaltherrschaft zu befreien. Das gehört zwingend zum Gedenken an den 8. Mai.

Medien, Zeitzeugen und nicht zuletzt Historiker erinnern in diesen Tagen an das Kriegsende. Werden sie noch gehört?
WIRSCHING: Auf der einen Seite würde ich den Eindruck teilen, dass die Wirkung mit dem Wandel der Generationen doch etwas nachlässt. Wir haben zudem eine Gesellschaft, die stark durch Migration geprägt ist. Unter Menschen, die zugewandert sind, sind natürlich andere Themen gefragt. Andererseits ist ein Datum wie der 8. Mai mit der Zeit auch zu seinem eigenen Mythos geworden. Und dann hängt es davon ab, wie stark dieser Mythos wirkt. Mythen leben davon, dass sie über Generationen hinweg weitererzählt werden. Dann können sie ihre Wirkung entfalten.
Früher hieß es beim „Spiegel“: Ein Titel mit Hitler ist ein Selbstläufer. Ist das heute nach ihrer Einschätzung noch immer so?
WIRSCHING: Der Ausspruch „Hitler sells“ gilt noch immer. Ob es jetzt ganz so der Selbstläufer ist, wie vielleicht noch in den 90er Jahren, ist schwer zu beantworten. Irgendwann weiß man über Hitler natürlich auch relativ viel. Das lockt vielleicht nicht mehr jedes Mal alle hinter dem Ofen hervor.
War die Aufarbeitung dieses schrecklichen Kapitels vielleicht gar nicht so erfolgreich, wie sie oft dargestellt wurde?
WIRSCHING: Also auf einer bestimmten Ebene ist es sicherlich eine Erfolgsgeschichte. Seit den 80er Jahren wurde damit begonnen, vorurteilsfrei die notwendigen Fragen zu stellen. Gleichzeitig wurden zunehmend die dazu notwendigen Quellen bereitgestellt. Das hatte auch etwas mit einem Generationswechsel zu tun – die Befindlichkeiten, die Befangenheit, all das ist dann nach ein, zwei Generationen nicht mehr so da. Das spielt eine große Rolle.
An welchen Punkten sehen Sie Defizite in Sachen Aufarbeitung?
WIRSCHING: Es gibt nach wie vor blinde Flecken. Einer davon, der gegenwärtig stark diskutiert wird, ist, dass man die Erinnerungskultur mit Blick auf Osteuropa bis zum Beginn des Angriffskrieges lange Zeit sehr stark auf Russland fokussiert hat. So ist insbesondere die Ukraine im deutschen Gedächtnis sehr stark unter die Sowjetunion subsumiert worden. Dabei waren gerade die deutschen Verbrechen in der Ukraine oder Belarus massiv. Weiterhin unterschätzt ist die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen oder auch die Aushungerung Leningrads durch die Deutschen. Dabei wurden ebenfalls alle völkerrechtlichen Normen mit Füßen getreten. Das waren schwere Kriegsverbrechen.
Die Zahl der Zeitzeugen sinkt rapide. Was bedeutet dies für unser Gedenken?
WIRSCHING: Natürlich sind es Zeitzeugen, die besonders mitreißend über ihre Erlebnisse, über das, was sie erlitten haben, berichten können. Der große Vorteil ist, dass Zeitzeugen Authentizität vermitteln, das ist vor allem in Schulen sehr wirkungsvoll. Gleichzeitig spricht ein Zeitzeuge nicht ungefiltert über die Situation von 1945, sondern er spricht darüber, wie er sich diese Situation heute vorstellt – aus dem Gedächtnis, aber auch aus anderen Quellen. Das ist ein Format, das man in absehbarer Zeit nur noch als Aufzeichnung zur Verfügung haben wird.
Und dann?
WIRSCHING: Das heißt nicht, dass jetzt die Erinnerung versiegt. Das ist ein häufiges, populäres Missverständnis. Denn wir haben natürlich unendlich viele Quellen, überwiegend schriftliche, aber auch Fotos, Filme und Audioquellen. Und diese Quellen sind authentisch, man muss sie halt zum Sprechen bringen – das ist die Aufgabe der Historiker, aber auch der Medien. Das Institut für Zeitgeschichte hat beispielsweise die große Edition „Judenverfolgung 1933–1945“ in 16 Bänden herausgegeben. Daraus hat der Bayerische Rundfunk das Hörbuch „Die Quellen sprechen“ erstellt. Dort kommen viele Opfer, auch aus den Ghettos zu Wort. Das ist sehr, sehr beeindruckend.
Lange dachte man, dass die Deutschen durch die Erinnerung an die deutschen Verbrechen gegen rechtsextreme Mehrheiten immun sind. Gilt das nicht mehr? Die AfD hat eine ganze Serie von Wahlerfolgen errungen, wird in aktuellen Umfragen immer stärker.
WIRSCHING: Ja, ich glaube, den Reflex gibt es so nicht mehr. Das war wahrscheinlich eher ein Thema der alten Bundesrepublik. Studien besagen ohnehin, dass stabile 15 Prozent der Befragten rechtsradikale Meinungen vertreten und für Antisemitismus und Rassismus empfänglich sind. 1969 und dann in den 2000er Jahren hatte die NPD begrenzte Wahlerfolge zu verzeichnen, Ende der 1980er Jahre die Republikaner. Doch für das Aufkommen der AfD greift die alte Vorstellung einer Immunität der Deutschen gegen Rechtsextremismus nicht mehr, weil ihr Aufstieg andere Ursachen hat – der Verlust von traditionellen Gewissheiten und eine stark empfundene kulturelle Statusunsicherheit. Das hat sehr viel zu tun mit der sich dynamisch verändernden Welt ringsherum und ist ja auch eine europaweite Entwicklung. Daraus speisen sich dann auch konkrete soziale Abstiegsängste.
Sehen Sie Schnittpunkte zwischen dem Siegeszug der NSDAP in der Weimarer Republik und den Wahlerfolgen der AfD?
WIRSCHING: Zwar kann man die AfD nicht einfach mit der NSDAP vergleichen, obwohl es durchaus ideologische Ähnlichkeiten gibt. Was die Wählerschaft betrifft, so gleicht diese einem Extremismus der Mitte. Das ist eine deutliche Analogie zu der Wählerschaft der NSDAP.
Was halten Sie von der Brandmauer gegen die AfD?
WIRSCHING: Sie ist sehr wichtig, denn es wäre gefährlich, der AfD auch nur einen Zipfel exekutiver Macht zuzugestehen.
Hätte man schon vor Jahren den Versuch unternehmen sollen, die Partei zu verbieten?
WIRSCHING: Absolut. Jetzt ist das natürlich schwierig. Aber es ist auf die Dauer ein unmöglicher und auch gefährlicher Zustand, dass ständig die Rede ist von einer gesichert rechtsextremistischen Partei, jetzt auch für die Gesamtpartei bestätigt durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, die dann aber völlig frei agiert, ohne dass etwas passiert. Ich halte es in diesem Zusammenhang nach wie vor für eine fatale Entscheidung, dass das Bundesverfassungsgericht 2017 die NPD nicht verboten hat. Denn dann hätte man eine juristische Norm in der Hand gehabt, die zeigt, ob sich eine Partei noch innerhalb des demokratischen Spektrums bewegt oder nicht. Diese Chance wurde vertan.
Zur Person Prof. Andreas Wirsching, 1959 in Heidelberg geboren, ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München und Berlin sowie Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor lehrte er an den Universitäten in Tübingen und Augsburg.
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