
Unterwegs mit dem Nachtzug: Einmal nach Venedig und zurück

Plus Kein Umsteigen, kein Stau, gut fürs Klima: Der Nachtzug ist eine Reiseform der Zukunft. Unsere Autorin hat die neue Verbindung von Augsburg nach Venedig getestet.

Der entspannte Teil der Freitagnacht beginnt so, wie viel mehr Wochenenden beginnen sollten: Ich klettere über einen Bierkasten und rede dabei weiter mit dem jungen Mann, den ich grade kennengelernt habe. Nur dass das Bier mir mitten in einem Nachtzug den Weg versperrt und ich mein Gepäck mühsam darüber heben muss, gehört – zumindest für mich – nicht zu einer typischen Freitagnacht dazu. Genau genommen ist es aber auch das erste Mal, dass ich mit einem Nachtzug verreise. Also vielleicht ist das immer so?
Von Augsburg fahren Nachtzüge nach Budapest, Wien und Venedig
Seit Mitte Dezember sind Ulm und Augsburg mit europäischen Städten wie etwa Budapest (Ungarn), Wien (Österreich) und Venedig (Italien) über den Nachtzug verbunden. Als ich das lese, entstehen sofort Bilder in meinem Kopf. Ich sehe mich, wie ich abends einsteige, mir vielleicht noch einen Snack oder Drink an der golden beleuchteten Bar im Speisewagen genehmige. Wie ich mit ein paar Reisenden ins Gespräch komme und dann morgens entspannt – und vor allem ausgeschlafen – bereit bin, Venedig zu erkunden. Kein Umsteigestress, kein Flugzeug oder Auto und maximal viel vom Wochenende: Eine klimabewusste Reiseform der Zukunft quasi – ich bin dabei. Am Ende kommt es etwas anders, als ich es mir ausgemalt habe. Aber fangen wir von vorn an.

Dass mir besagter Bierkasten den Weg versperrt und nicht schon seit Göppingen sauber verstaut in der Gepäckablage quer durch Süddeutschland fährt, hat gute Gründe. Anders als eigentlich geplant, startet der Nachtzug nicht in Stuttgart, sondern am Münchner Ostbahnhof. Alle Reisenden, die so wie ich, eigentlich davor zugestiegen wären, bleibt also nichts anderes übrig, als sich mit alternativen Verbindungen auf den Weg nach München zu machen. So geht es auch Frank und seinen vier Freunden aus Göppingen. "Als wir in der S-Bahn kontrolliert wurden, hat uns der Schaffner ausgelacht", erzählt er, während er das Bier und die letzten Gepäckstücke der Gruppe einsammelt. "Der dachte, wir wollen ihn verarschen, als wir gesagt haben, dass wir nach Venedig fahren."
Die Reise mit dem Nachtzug nach Venedig beginnt chaotisch
Als der Nachtzug kurz nach Mitternacht abfährt, herrscht drinnen noch großes Durcheinander. Die meisten Reisenden und ihr Gepäck sind nicht dort, wo sie sein sollten. Viele stehen in kleinen Gruppen zusammen und schauen gemeinsam auf ihre Tickets oder suchen stirnrunzelnd nach der richtigen Abteilnummer. Lieber einsteigen, bevor der Zug am Ende ohne mich losfährt, ist auch meine Devise. Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich an den Menschen und deren Gepäck vorbei einmal quer durch die Zugteile Richtung Zagreb und Budapest vorsichtig nach vorn durchzukämpfen. Lorenzo aus Donauwörth, der neben mir fröstelnd am Gleis darauf gewartet hat, dass der eigentliche Teil unserer Reise – endlich – beginnen kann, begleitet mich. Denn auch er fährt nach Italien, um seine Freundin in Udine zu besuchen.

Er ist quasi Veteran, wenn es darum geht über Nacht zu verreisen und ist mit seinem Nackenkissen darauf vorbereitet, möglichst viel Schlaf aus der kurzen Nacht herauszukitzeln. Aber auch Lorenzo ist noch nie Nachtzug gefahren. "Ich hoffe sehr, dass ich hier mehr Platz für meine Beine als im Fernbus haben werde", sagt er. Er hat einen Platz im Sitzwagen – der günstigsten Kategorie, die man im sogenannten Nightjet buchen kann. Als wir bei seinem Abteil ankommen, zeigt sich allerdings, dass Beinfreiheit scheinbar auch davon abhängt, wie viele Leute mit einem Reisen. Neben und gegenüber von Lorenzos Platz haben, sitzen bereits zwei Männer.
Bis zu sechs Menschen haben in einem Abteil im Sitzwagen Platz, drei Sitze sind jeweils einander gegenüber angeordnet. Im Grunde ein Abteil, wie man es aus anderen Schnellverkehrszügen kennt. Aber: Im Nightjet kann man Ablageflächen für die Beine von unter den Sitzen hochklappen – also dann doch etwas mehr Komfort, als man es von engen Reisebussen oder Flugzeugreihen gewohnt ist.
Im Schlafwagen reist man am komfortabelsten
Ich verabschiede mich von Lorenzo und ziehe weiter. Denn habe auf dieser Fahrt die höchste Komfortkategorie, welche die Nachtzüge zu bieten haben: ein eigenes Abteil im Schlafwagen. Das heißt: Ich habe nicht nur ein Bett, sondern auch ein kleines Waschbecken ganz für mich allein. In den sogenannten "Deluxe-Abteilen" gibt es sogar ein eigenes Bad mit zusätzlich Dusche und WC. So bequem bin ich noch nie Zug gefahren - was auch möglichrweise auch daran liegen könnte, dass die Deutsche Bahn seit Längerem alle eigenen Nachtzug-Linien eingestellt hat. Aus wirtschaftlichen Gründen hatte das Unternehmen Ende 2016 die Reißleine gezogen, (unpraktischer Weise) kurz bevor das Reisen per Nachtzug wieder deutlich beliebter und gefragter wurde. Viele Linien - wie auch meine - werden seitdem von der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) betrieben.
Noch sind alle Türen der Schlafabteile geöffnet, angeregte Stimmen vermischen sich mit dem Rattern des Zuges. Lachen ist zu hören und eine gewisse Aufregung und Vorfreude wirkt beinahe greifbar. Vielleicht liegt es daran, dass das Wochenende bevorsteht, vielleicht an der Erleichterung, dass man nun endlich im Nachtzug angekommen ist. Auf jeden Fall steckt diese Offenheit an und – obwohl ich ohne Begleitung reise – fühle ich mich nicht allein.

Langsam arbeitet sich die Zugchefin Kristina zu mir vor. Sie kontrolliert in jedem Abteil die Tickets, gibt Infos zu Frühstück und Co. Ein wenig fühlt sich das Ganze an, als würde man in einem Hotel einchecken – einem Hotel, dass gelegentlich leicht ins Schwanken kommt und in dem man rechtzeitig bereit sein muss, um auszusteigen. Kristina ist es sichtlich unangenehm, dass so viele der Reisenden den Nachtzug nur auf Umwegen erreichen konnten. "Sonst ist das nicht so", verspricht sie. Aber an diesem Abend hätten die Nachwirkungen der brennenden Geister-Lok bei Freilassing aus der vorangegangenen Nacht eine normale Fahrt unmöglich gemacht. Kurz darauf kommt sie noch einmal vorbei und sammelt die ausgefüllte Bestell-Karte fürs Frühstück ein. Das wird sie um sieben Uhr morgens vorbeibringen – gut eineinhalb Stunden vor der Ankunft in Venedig.
Die Nacht kehrt im Nachtzug ein
Als ich zum ersten Mal die Tür zu meinem Abteil schließe, ist es schon beinahe halb zwei. Aber die kribbelige Aufregung zum ersten Mal mit einem Nachtzug zu verreisen, lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Und wollte ich nicht eigentlich noch Leute im Speisewagen kennenlernen?
Also öffne ich die Tür kurzerhand wieder und – weil sie nach außen aufgeht und der Gang sehr schmal ist – treffe ich damit beinahe Kristinas Kollegen, der sich ebenfalls um die Reisenden kümmert. Er bereitet meinen Plänen ein Ende, denn nein leider hat dieser Nachtzug keinen Speisewagen. Aber man könne gerne Snacks oder Getränke bei ihnen bestellen. Ich lehne dankend ab, beschließe aber kurzerhand den Zug trotzdem noch ein wenig zu erkunden.

Inzwischen ist deutlich mehr Ruhe eingekehrt. Die meisten Türen im Schlafwagen sind geschlossen, nur noch einzelne Gespräche kann man gedämpft wahrnehmen. Der leichte Teppichboden schluckt die Schritte meiner Socken. Den Unterschied zum nächsten Zugteil merke ich sofort – hier gibt es keinen Teppich mehr, sondern nur noch deutlich kälteren Plastikboden. Auch in den Sitzabteilen ist es größtenteils ruhig. Viele haben die Vorhänge zugezogen, ein paar einzelne lesen noch oder arbeiten am Laptop. Der Zug scheint insgesamt recht ausgelastet, aber ein paar der Abteile sind noch frei.
Mit dem Nachtzug zum Fußball-Spiel in Venedig
Ein paar Meter weiter laufe ich Frank vom Anfang der Fahrt – der mit dem Bierkasten – über den Weg. Er lädt mich zu ihm und seinen vier Freunden in das vermutlich lauteste – und wachste – Abteil des Zuges ein. Und ehe ich mich versehe, sitze ich zwischen Lars und Tristan und habe selbst ein Bier in der Hand. Während sich der Zug immer weiter durch das stark verschneite Österreich vorarbeitet, lerne ich, dass es Schlagerlieder über Venedig gibt, die man in den passenden Situationen hervorragend mitsingen kann, und dass auch das Fußball-Stadion in Venedig direkt am Meer liegt. Dorthin sind die fünf Männer unterwegs.

Sie alle verbindet die Liebe zu ihrem Göppinger Verein. "Wir schauen uns aber auch gerne schöne Stadien anderer Vereine an", erzählt Lars. Er selbst ist noch nie Nachtzug gefahren und war vorher selbst ein bisschen aufgeregt, wie er verrät. Samstagnacht geht es für die fünf direkt wieder zurück, dann aber im Schlafwagen. Und den werden sie "bitter nötig haben", wie es Tristan ausdrückt.
Mittlerweile sind wir in Salzburg angekommen, hier hält der Nachtzug gut eine Stunde in der sich die Zugteile nach Zagreb und Budapest auf ihre separate Reise aufmachen. Dicke, fedrige Schneeflocken schweben zu Boden, während Marcel die Pause nutzt, um am Bahnsteig eine zu rauchen und Kevin den Gang auf- und abgeht, um zu schauen, wie laut ihre Musik draußen zu hören ist.
Frühstücken während ein frostiges Italien vor dem Fenster vorbeizieht
Nach Wonderwall von Oasis und viel gemeinsamen Lachen verlasse ich die fünf gegen Viertel nach drei Uhr wieder. Langsam fallen mir dann doch die Augen zu – und viel Zeit bleibt nicht mehr, bis es Frühstück gibt. Denn wie versprochen steht Zugchefin Kristina um kurz nach sieben mit einem Tablett (zwei Semmeln, Marmelade, Margarine, Orangensaft) vor der Tür meines Abteils.

"Haben Sie gut geschlafen?", fragt sie. Und ja, das habe ich tatsächlich. Die Matratze ist zwar etwas härter als ich es gewohnt bin, aber die Möglichkeit meine Beine hochzulegen und mich auszustrecken war eine Wohltat. Mit ein paar Handgriffen lässt Kristina das Bett jetzt allerdings verschwinden, dafür erscheinen an seiner Stelle drei blaue Sitze. Während ich meinen Orangensaft trinke, wird es draußen langsam hell und gibt den Blick frei auf die von Frost überzogene italienische Landschaft.
Zu viel Zeit darf ich mir allerdings nicht lassen, denn die Ankunft in Venedig rückt näher. Nebenan packen Julia und ihre Oma Margot aus Stuttgart bereits ihre Sachen zusammen. Die beiden sind auf dem Venediger Festland allerdings noch nicht am Ende ihrer Reise angekommen, sondern fahren von dort aus weiter nach Rom. "Ich bin total der Nachtzug-Fan", schwärmt Julia, während sie einen letzten Blick durch das Abteil gleiten lässt. "Man hat einfach ein ganz anderes Gefühl auf Reisen zu sein."
Nachtzug nach Venedig spart im Vergleich zum Flugzeug viel CO2 ein
Pünktlich um 8:34 Uhr rollen wir in Venezia Santa Lucia ein. Rucksack auf, Koffer gegriffen und ein paar Stufen runter: Zum ersten Mal nach gut achteinhalb Stunden habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Und kann gar nicht glauben, wie schnell die Zeit vergangen ist. Vieles lief nicht wie gedacht oder geplant – gelohnt hat sich die Reise mit dem Nachtzug aber trotzdem. Zum Vergleich: mit dem Auto hätte ich von Augsburg aus knapp 6 Stunden und 40 Minuten gebraucht, mit dem Flugzeug mit einem Direktflug ab München gut eine Stunde. Dabei hätte ich allerdings ein Vielfaches an CO2 verursacht.

Und noch ein Gutes hat die Fahrt mit dem Zug: Ein paar Meter weiter wartet direkt vor dem Bahnhof der berühmte Canal Grande auf mich – und guten Kaffee gegen die (selbst verschuldete) Müdigkeit soll es hier ja auch geben.
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"mit dem Flugzeug mit einem Direktflug ab München gut eine Stunde" - plus die Fahrten zum Start- und vom Zielflughafen sowie die Stunde Anwesenheit vor Check-in...
Ich kenne den Nachtzug aus eigener Erfahrung; bereits seit Jahrzehnten. War eine mehr als wunderbare Angelegenheit, bis man nach meinem Kenntnisstand in Deutschland diese Art des Reisens eingestellt hat und, ich glaube, an Österreich verkauft hat. Jetzt erkennt man wieder dessen Vorteile? Schon interessant was so alles eingestellt wurde obwohl es mehr als praktikabel und komfortabel war. Glücklicherweise kommt aber so manches zurück. Nur warum stellt man dies denn dann überhaupt ein?