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Union Berlin: Einst vom FC Bayern gepäppelt, nun ein Konkurrent

Union Berlin

Einst vom FC Bayern gepäppelt, nun ein Konkurrent

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    Nico Schlotterbeck (links) und Marvin Friedrich haben mit Union Berlin häufiger einen Grund zum Jubeln, als vor der Saison anzunehmen war.
    Nico Schlotterbeck (links) und Marvin Friedrich haben mit Union Berlin häufiger einen Grund zum Jubeln, als vor der Saison anzunehmen war. Foto: Imago Images

    Aus rund 7500 Legosteinen haben der Berliner Björn Ahlhelm und sein zehnjähriger Sohn Justus in der Lockdown-Langeweile das Stadion An der Alten Försterei nachgebaut. "Irgendwie müssen wir uns ja beschäftigen, solange wir wegen Corona nicht zu den Heimspielen von Union können", sagt der Vater. Dann, so der Dauerkartenbesitzer, hätten sie ein Interview mit Vereinspräsident Dirk Zingler gesehen. In dem dieser sagt, dass der Jahresumsatz von Union 75 Millionen Euro beträgt, der von Bayern München aber 750 Millionen.

    Justus und Björn Ahlhelm haben die Alte Försterei detailgetreu nachgebaut.
    Justus und Björn Ahlhelm haben die Alte Försterei detailgetreu nachgebaut. Foto: Ahlhelm

    Justus wollte wissen, was das bedeutet. Ahlhelm erklärte ihm also, dass es bei Union um zehntausend Mal so viel Euro geht, wie ihr Stadion Legosteine hat. Und bei den Bayern eben um hunderttausend Mal so viel: „Da hat Justus gestaunt.“

    Ginge es nur nach Zahlen, wäre alles klar vor dem Geisterspiel Union Berlin gegen Bayern München an diesem Samstag (18.30 Uhr, Sky). Armer Schlucker aus Köpenick am östlichen Rand Berlins gegen den Liga-Krösus. Zwei Vereine, die gegensätzlicher nicht sein könnten – zumindest auf den ersten Blick. "Bei näherem Hinsehen verbindet beide Mannschaften sogar eine ganze Menge", sagt Björn Ahlhelm. Er hat sich intensiv mit der wechselvollen Geschichte des 1. FC Union Berlin beschäftigt, an mehreren Chronik-Projekten mitgearbeitet, ehrenamtlich natürlich. Im Hauptberuf ist der 43-Jährige Museologe, leitet als "Kastellan" ein ehrwürdiges Schlossmuseum.

    Der FC Bayern hat Union Berlin mehrfach geholfen

    Doch schon seine Diplomarbeit hat er über seinen Lieblingsverein geschrieben. "Bayern hat Union mächtig aus der Patsche geholfen und das nicht nur einmal", sagt er. 2004 etwa, da steckte der damalige Drittligist in schweren finanziellen Nöten, drohte die Lizenz zu verlieren. Ahlhelm: „Ziemlich überraschend kamen die Bayern für ein Benefizspiel vorbei, anschließend war die Kasse wieder voll.“ Ausweislich des alten Vereinsmagazins, das Ahlhelm herauskramt, gewann Bayern unter Trainer Felix Magath 5:1. Für Bayern trafen zweimal Roque Santa Cruz, Mehmet Scholl, Martin Demichelis und Piotr Trochowski. Den Berliner Ehrentreffer erzielte der US-Amerikaner Ryan Coiner.

    Die Rettungstat haben die Unioner den Münchnern nie vergessen. Zumal die schon 1993 und 1997 den nach der Wende in schwere Wasser geratenen ehemaligen Ostklub mit Freundschaftsspielen päppelten. Einmal standen Finanzbeamte an der Kasse und nahmen das Eintrittsgeld direkt in Empfang.

    Die Dankbarkeit endet natürlich auf dem Spielfeld. Union tritt als selbstbewusster Tabellensechster gegen den Spitzenreiter aus München an – das klingt fast nach Augenhöhe. Aus den Köpenickern ist in ihrer zweiten Bundesligasaison ein Team geworden, das kein Gegner mehr unterschätzt. Nach der Auftaktniederlage gegen Augsburg holte Union vier Siege und vier Unentschieden. Zuletzt, im Berliner Derby gegen Hertha BSC, verlor man allerdings 1:3. Besonders schmerzt Union, dass der neue Publikumsliebling Max Kruse sich eine Muskelverletzung zuzog und wohl acht Wochen fehlt. Kruse war der jüngste Transfer-Coup von Manager Oliver Ruhnert, den viele für den eigentlichen Vater der Erfolge halten.

    Mit Max Kruse ging Union Berlin ein Risiko ein, das andere Vereine scheuten

    Denn der ehemalige Leiter des Schalker Nachwuchsprogramms hat für kleines Geld erstaunlich hohe Qualität in den Kader gebracht. Weil sich Union hohe Wechselprämien nicht leisten kann, setzt er auf Spieler, die ablösefrei oder leihweise zu haben sind, auf solche, die noch keiner kennt oder aber aus den falschen Gründen zu bekannt sind. Mit der Verpflichtung des als Skandalnudel geltenden Kruse ging Union ein Risiko ein, das andere Vereine scheuten.

    Der 32-jährige Instinktfußballer hat es in seinem Hobby, dem Pokerspiel, fast so weit gebracht hat wie als Profi bei Bremen, Gladbach oder Wolfsburg. Weil er beim Feiern schon mal übertreibt oder nach dem Kartenspiel 75.000 Euro im Taxi verliert, warf Bundestrainer Jogi Löw ihn aus dem Nationalteam, zuletzt kickte Kruse in der Türkei. Union holte ihn zu Saisonbeginn, er dankte es mit sechs Toren und fünf Vorlagen, die maßgeblich zur Serie von acht Spielen ohne Niederlage beitrugen.

    Versucht in Berlin einen Neuanfang: Loris Karius.
    Versucht in Berlin einen Neuanfang: Loris Karius. Foto: Christophe Gateau, dpa

    Loris Karius ist ein weiterer Gestrauchelter, der in Köpenick eine neue Chance bekommt. Der Torhüter kam als Leihgabe des FC Liverpool über den Umweg Türkei. Mit zwei groben Patzern, bedingt wohl durch eine unbemerkte Gehirnerschütterung, hatte er im Champions-League-Finale 2018 die Liverpooler Niederlage gegen Real Madrid mitverschuldet. Weil Stammkeeper Andreas Luthe gegen Hertha Schwächen zeigte, könnte Karius gegen die Bayern erstmals für Union zwischen den Pfosten stehen. Sicher ist das nicht, denn Trainer Urs Fischer ist keiner, der schnell von seinem Konzept abweicht. Gegen Bayern muss er allerdings neben Kruse auch den rotgesperrten Robert Andrich und etliche weitere Stammspieler ersetzen. Die Mannschaft stellt sich also fast von selbst auf.

    Auch der Schweizer Coach Urs Fischer ist Ruhnerts Entdeckung, gleich am Ende seiner ersten Saison stieg Union im Mai 2019 aus der zweiten in die erste Bundesliga auf. Den Experten galt der Verein – größter Erfolg war der DDR-Pokalsieg 1968 – als heißer Abstiegskandidat. Mit Rang elf wurde der Klassenerhalt jedoch souverän geschafft.

    Kaum ein anderer Standort, an dem die Fans eine derartige Bedeutung haben

    Eine Niederlage gegen Bayern wäre kein Beinbruch, Saisonziel ist der Klassenerhalt. Alles andere grenzte an Größenwahn, zumal so viele Leistungsträger fehlen. Aber Urs Fischer sagt auch: "Ich wüsste nicht, warum die Stimmung jetzt kippen sollte." Für die Stimmung in der Alten Försterei sorgen zu Nicht-Corona-Zeiten Fans, die dafür bekannt sind, 90 Minuten ununterbrochen zu klatschen, singen und tanzen – egal wie das Spiel steht. Sogar den Ausbau des Stadions haben die Unioner in unzähligen ehrenamtlichen Arbeitsstunden fast allein geschultert.

    Die hohe Identifikation, glaubt Freizeit-Klubhistoriker Ahlhelm, hat ihre Wurzeln in der ehemaligen DDR, aber wenig mit Ostalgie zu tun. Schon im Arbeiter- und Bauernstaat habe der Verein aus Köpenick, der seinen Spitznamen "Die Eisernen" dem örtlichen Metallwerk verdankt, als Underdog gegolten. Die Fans standen staatlicherseits im Ruf, regimekritisch, aufmüpfig und Westkontakten nicht abgeneigt zu sein. Ahlhelm: "Oft kamen Hertha-Fans mit einem Tagesvisum über die Mauer, um Union anzufeuern gegen die linientreue Konkurrenz wie den Stasi-Klub BFC Dynamo Berlin." Die Nachwende-Jahre seien zunächst von finanziellem Chaos und einer sportlichen Achterbahnfahrt geprägt gewesen. In dem rettenden Spiel gegen die Münchner von 2004 sieht Ahlhelm eine Art Wendepunkt in der Vereinsgeschichte.

    Mit dem ambitionierten Dirk Zingler als Präsident kam der Erfolg zu Union Berlin.
    Mit dem ambitionierten Dirk Zingler als Präsident kam der Erfolg zu Union Berlin. Foto: Andreas Gora, dpa

    Den Bauunternehmer Dirk Zingler, der im selben Jahr vom Fan zum Präsidenten wurde, vergleichen viele mit dem langjährigen Bayern-Motor Uli Hoeneß: anspruchsvoll, leidenschaftlich, aber langfristig in den Zielen. Union jedenfalls stieg nach der Rettung zwar aus sportlichen Gründen erst einmal ab. Anschließend jedoch ging es langsam, aber stetig bergauf, mit zunehmend soliden Finanzen, geduldiger Aufbau- und Jugendarbeit und zurückhaltender Transferpolitik. "Damals, beim Gastspiel der Bayern in Köpenick, mag sich Zingler ja gedacht haben, dass er sich von denen eine kleine Scheibe abschneiden kann. Aber das ist nur meine Spekulation", sagt Ahlhelm. Er jedenfalls hofft, dass das Geisterspiel am Samstag nicht das letzte reguläre Bundesliga-Heimspiel von Union gegen den FC Bayern ist. Auch wenn ihr Lego-Stadion schön geworden ist – in der nächsten Saison will er mit Justus dann in der großen Alten Försterei dabei sein.

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