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Globalisierung: Sollten die globalen Lieferketten wirklich gekürzt werden?

Globalisierung

Sollten die globalen Lieferketten wirklich gekürzt werden?

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    Die Lieferketten bleiben unter Spannung. Sind mehr Produktionsstätten in Europa die Lösung?
    Die Lieferketten bleiben unter Spannung. Sind mehr Produktionsstätten in Europa die Lösung? Foto: Daniel Reinhardt, dpa

    Die Lage bleibt schwierig: Fast zwei Drittel der Industriefirmen in Deutschland klagen laut Ifo-Institut über Engpässe und Lieferprobleme. Es fehlt an Halbleitern und Chips. Kunststoffgranulate werden immer teurer. Es leiden Autobauer, Zulieferer, die Hersteller von Gummi- und Kunststoffwaren. Die Preise am Bau gehen hoch. Es leiden die Verbraucher. Und: "Das könnte zu einer Gefahr für den Aufschwung werden“, sagt der Leiter der Ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe. „Derzeit bedienen die Hersteller die Nachfrage noch aus ihren Lagern an Fertigwaren. Aber die leeren sich nun auch zusehends, wie sie uns mitgeteilt haben.“

    Die Lieferengpässe, der Rohstoffmangel und die daraus resultierenden Teuerungen haben längst eine Standort-Diskussion ausgelöst, in der auch Handelskriege und der Klimawandel eine Rolle spielen. Wird die Widerstandsfähigkeit einer Lieferkette künftig wichtiger als das Kostenargument?

    Ifo-Experte Klaus Wohlrabe warnt vor einem "Weiter so"

    Ifo-Experte Wohlrabe sagt: "Ich denke nicht, dass sich die Diskussion erübrigt, wenn die Lieferengpässe mal überwunden sind. Die aktuelle Krise und die Grenzschließungen im vergangenen Jahr zeigen den Unternehmen, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Ein 'Weiter so' sollte es nicht geben, denn das könnte für manche Unternehmen ein böses Erwachen in der nächsten Krise geben." Kurzfristig lasse sich nicht viel an der Situation ändern, langfristig aber müssten die Unternehmen strategisch entscheiden, ob sie an ihren Lieferketten etwas ändern wollen.

    Wohlrabe meint: "Diversität ist dabei das Stichwort. Lieferketten werden nicht mehr primär über den Preis ausgewählt, sondern auch mit Blick auf die Robustheit der Logistik in Krisenzeiten." Das könne bedeuten, sich alternative Zulieferer, zum Beispiel in Europa, zu suchen, um zukünftig flexibel reagieren zu können. "Vielleicht ist das nicht für jedes Unternehmen möglich, aber diese Prozesse werden jetzt angestoßen. Vielleicht wird auch die eine oder andere Auslagerung überdacht werden."

    Kieler Institut für Weltwirtschaft rät eine Diversifizierung der Produktionsstätten

    Hat Europa im globalen Wettbewerb also ganz neue Standortvorteile? Macht es für Unternehmen wirklich Sinn, ihre Lieferketten zu verkürzen und vermehrt in Europa produzieren zu lassen? Alexander Sandkamp ist Experte für Handelspolitik am Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW). Er sagt: "Vereinzelt mag es für Unternehmen durchaus sinnvoll sein, Lieferketten zu verkürzen und die Produktion nach Europa zu verlagern. Wie uns jedoch durch die aktuelle Flutkatastrophe in Deutschland wieder schmerzhaft bewusst gemacht wird, können Krisen und Produktionsausfälle auch direkt vor unserer Haustür auftreten." Während der Anfangsphase der Pandemie habe es zudem auch innereuropäische Lieferengpässe gegeben. Sandkamp meint: "Die Lösung für dieses Problem besteht meines Erachtens daher nicht in einer Verlagerung, sondern in einer Diversifizierung der Produktionsstätten." Im Krisenfall kann so auf andere Zulieferer ausgewichen werden. Und Sandkamp betont. "Hier hilft eine Stärkung des internationalen Wettbewerbs um zu vermeiden, dass einzelne Produzenten zu Monopolisten werden."

    Europas "strategische Autonomie" wäre sehr teuer

    Das IfW hat sich jüngst in einer Simulationsrechnung mit der „strategischen Autonomie“ auseinandergesetzt, die auf EU-Ebene diskutiert und angestrebt wird. Ergebnis: "Ein solches Abkoppeln der EU von internationalen Lieferketten oder auch nur von China würde die EU-Staaten jedoch hunderte Milliarden Euro kosten." Und die Exportnation Deutschland würde besonders darunter leiden.

    So geht es der Wirtschaft nach einem Jahr Pandemie

    Gastronomie und Hotellerie Restaurants und Hotels verzeichnen nie dagewesene Umsatzverluste. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts brachen die Umsätze im Jahr 2020 real um 39,0 Prozent ein. Einer Umfrage des Verbandes zufolge beklagen die Betriebe zwischen März 2020 und März 2021 Umsatzeinbußen von 63,0 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Im Februar 2021 sank der Umsatz laut Angaben der 6500 Umfrageteilnehmer um 77,9 Prozent. „Die Konten sind leer, die Rücklagen sind aufgebraucht, die Nerven liegen blank“, sagte Dehoga-Präsident Guido Zöllick. 72,2 Prozent der Unternehmer bangen um ihre Existenz.

    Tourismus Die Corona-Krise hat die Branche schwer getroffen: Im Jahr 2020 zählten die Beherbergungsbetriebe 302,3 Millionen Übernachtungen. Das waren dem Statistische Bundesamt zufolge 39 Prozent weniger als 2019. Die Umsätze der Reisebüros, -veranstalter und Reservierungsdienstleister gaben von Januar bis September 2020 um 61 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum nach.

    Theater und Veranstaltungen Hart trifft die Krise vor allem Kulturschaffende. Ein Beispiel: In der Spielzeit 2019/2020 zählte das Staatstheater Augsburg noch 118 000 Besucher. Damit wurden nur 62 Prozent der Besucherzahl der Vorjahre erreicht, teilte das Theater mit.

    Handel und Online-Handel Komplett zweigeteilt ist das Bild im Handel: Der Einzelhandel insgesamt legte 2020 sogar um 5,7 Prozent auf einen Umsatz von 577,4 Milliarden Euro zu. Der Onlinehandel wuchs um satte 20,7 Prozent, berichtet der Handelsverband Deutschland. Im Einzelhandel mit Bekleidung, Schuhen, Textilien und Leder ist die Lage dagegen desaströs. Der Umsatz brach um 23 Prozent ein. Ende März 2021 sahen sich bis zu 120 000 Geschäfte in Existenzgefahr.

    Lebensmittel Stark profitieren konnten die Lebensmittelhändler. Rewe meldete für 2020 ein Umsatzplus, auch Edeka ging davon aus.

    Räder, E-Bikes, Wohnmobile Der deutsche Fahrrad- und E-Bike Markt hat sich 2020 hervorragend entwickelt. Laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) wurden weit über fünf Millionen Räder und E-Bikes wurden verkauft. Der Umsatz erreichte 6,44 Milliarden Euro – ein Plus von 60,9 Prozent gegenüber 2019. Der Verkaufspreis pro Fahrrad inklusive E-Bikes lag bei 1 279 Euro. Gut lief auch das Geschäft mit Wohnmobilen: Die Caravaningbranche setzte vergangenes Jahr 12,5 Milliarden Euro um, berichtet der Caravaning Industrie Verband. Der Umsatz stieg um über 6 Prozent auf einen Rekord.

    Technik In der IT-Branche läuft es rund. „Während die dritte Infektionswelle Deutschland in Atem hält, herrscht in der Digitalbranche große Zuversicht“, sagte Achim Berg, Präsident des Branchenverbandes Bitkom diesen Monat Der Verband erwartet, dass der deutsche Markt in diesem Jahr um 2,7 Prozent auf 174,4 Milliarden Euro wächst und deutsche Unternehmen 20 000 Jobs schaffen. (AZ)

    Jenseits politischer Strategien, rein wirtschaftlich betrachtet, sagt Sandkamp mit Blick auf die akute Rohstoffknappheit: "Langfristig könnte zumindest in einigen Bereichen verbessertes Recycling zur Lösung beitragen. Auch Lagerhaltung ist und bleibt wichtig, um kurzfristige Engpässe zu überbrücken." Grundsätzlich aber sollte es den Unternehmen überlassen bleiben zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie Lieferketten verlagern möchten. Zugleich aber sagt auch er: Resilienz wird für die Lieferkette umso wichtiger je öfter Naturkatastrophen aufgrund des Klimawandels auftreten. Auch hier könne Diversifizierung der Zulieferer ein Anpassungsmechanismus sein. "Internationaler Handel war schon immer eine Art Versicherung gegen Krisen."

    IHK-Experte Matthias Köppel: "Mehr dezentrale Lagerung"

    Matthias Köppel, Leiter Geschäftsbereich Standortpolitik bei der IHK Schwaben, antwortet auf die Frage, ob es sinnvoll ist, Produktion nach Europa zurückzuholen: "Die Therapie käme angesichts der aktuellen Probleme wahrscheinlich zu spät. Neue Produktionskapazitäten aufzubauen, ist für Unternehmen ein hochstrategisches Projekt und dauert von der Erkundung bis zur Realisierung im besten Fall ein bis zwei Jahre." Am meisten Sinn mache dies stets bei Hightech-Produkten wie Batterien oder Mikroelektronik, weil dort Rückkoppelungen zwischen Forschung und Produktion besonders eng sein müssten. Köppel hält für wahrscheinlich, dass es künftig zu "mehr dezentraler Lagerung von Produkten in Deutschland kommt, gerade wenn das Verhältnis von Preis und Volumen entsprechend günstig ist".

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