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Interview: Wolfgang Clement: "In Deutschland ist nicht alles in Butter"

Interview

Wolfgang Clement: "In Deutschland ist nicht alles in Butter"

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    Wolfgang Clement hält Sigmar Gabriel für das derzeit größte politische Talent der SPD.
    Wolfgang Clement hält Sigmar Gabriel für das derzeit größte politische Talent der SPD. Foto: Fred Schöllhorn

    Wolfgang Clement betritt ein Fürstenzimmer des Augsburger Rathauses. Der 77–Jährige wirkt schlanker als früher. Der einstige Spitzenpolitiker hält eine Rede beim Neujahrsempfang der schwäbischen Arbeitgeberverbände. Zuvor gibt er wie früher mit sichtlich Spaß und sonorer Stimme Interviews. Im Jahr 2008 trat Clement aus der SPD aus. Ein langer Streit war vorausgegangen.

    Er hatte von der Wahl der SPD bei den hessischen Landtagswahlen indirekt abgeraten, nachdem seine Parteikollegen dort gleichermaßen Atomenergie und Kohlekraft verteufelt haben. Heute vertritt Clement als Kuratoriumsvorsitzender die Interessen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, eine Lobbygruppe, die von den Metallarbeitgeber-Verbänden finanziert wird.

    Herr Clement, wie geht es Ihnen?

    Clement: Ich musste mich heute schon aufregen.

    Warum das denn?

    Clement: Ich bin mit der Bahn nach Augsburg gefahren. Beim Telefonieren brach immer wieder das Gespräch ab. So etwas darf es in einem hoch entwickelten Land nicht geben. Ich war unlängst in Estland. Da ist alles digital. Und jetzt sitze ich in Deutschland im Zug und muss mich ärgern. Ich habe schließlich fünf Töchter und zwölf Enkel. Da gibt es viel am Telefon zu besprechen.

    In Berlin haben Politiker von Union und SPD auch noch eine Menge zu besprechen, ehe eine Große Koalition Wirklichkeit wird. Was halten Sie von einer weiteren Aufführung der GroKo?

    Clement: Die letzte Große Koalition war nicht gut für unser Land. Denn die Verantwortlichen haben mit unsinnigen Beschlüssen wie der Mütterrente und der Rente mit 63 mehr für ältere Menschen als für die Zukunft Deutschlands getan. Wir können aber nicht nur Geld für soziale Wohltaten ausgeben und wichtige Zukunftsthemen wie Bildung und Forschung vernachlässigen. In meiner Heimat Nordrhein-Westfalen sind viele Schulen in einem schlechten Zustand. Es ist also nicht alles in Butter in Deutschland. So müssten wir bundesweit dringend gut 20 Milliarden Euro in die Bildung investieren. Mir geht es vor allem auch um die Chancengleichheit. Wir brauchen flächendeckend Ganztagsschulen und Kitas. Auch Jugendliche aus bildungsfernen Schichten müssen eine Aufstiegschance haben.

    Sie haben Karriere als Journalist gemacht und wurden Chefredakteur der Hamburger Morgenpost. Dann nahm die politische Karriere kräftig Fahrt auf, und seit 2008 sind Sie als Querdenker und Mahner im Land unterwegs. In welcher Phase ihres Lebens waren Sie am glücklichsten?

    Clement: Ich habe immer viel Glück gehabt. So habe ich, als ich das Abitur gemacht hatte, einen Chefredakteur kennengelernt, der mir mit damals 19 Jahren eine Chance gab, in den Beruf einzusteigen. Dann habe ich die SPD-Legenden Johannes Rau und Willy Brandt kennengelernt. So hatte ich Glück und konnte mich weiterentwickeln. Als Chefredakteur der Hamburger Morgenpost durchlebte ich eine aufregende Zeit. Ich habe Boulevardjournalismus mühsam erlernt. In meinem politischen Leben war die Zeit als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfallen toll. Denn ein Ministerpräsident genießt eine Unabhängigkeit, wie das in der Politik sonst nur selten der Fall ist. Die Zeit als Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit war die größte Herausforderung.

    Worin bestand die große Herausforderung als Bundeswirtschaftsminister?

    Clement: Wir setzten die Reformagenda 2010 um. Wir wollten die hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen. Die Zahl der Erwerbslosen war auf Rekorde gestiegen und kletterte über die Marke von 4,8 Millionen.

    Welchen Anteil hat die Agenda an der heute in Deutschland insgesamt guten wirtschaftlichen Lage?

    Clement: Mit Sicherheit hat die Agenda an der Überwindung des absoluten wirtschaftlichen Tiefpunkts, als die New Economy 2000 eingebrochen war, einen wichtigen Anteil. Die sozialpolitischen Reformen halfen, ab 2005 aus der Krise herauszukommen. Die Agenda wirkt bis heute positiv, weil der Arbeitsmarkt flexibilisiert wurde. Leider ist manches an der überzeugenden Reform zurückgedreht worden.

    Zu Krisenzeiten im Jahr 2004 haben Sie als Wirtschaftsminister keck behauptet, dass Vollbeschäftigung in Deutschland bis 2010 möglich ist...

    Clement: ... und ich wurde für einen Idioten erklärt. Natürlich war die Aussage überspitzt, und die Weltfinanzkrise im Jahr 2008 hat verhindert, dass Deutschland schneller gesundet. Ich habe mich also etwas verspekuliert. Aber wenn ich die weltwirtschaftlichen Verwerfungen herausrechne, war das nicht so ganz falsch. Heute herrscht in Bayern und Baden-Württemberg in vielen Regionen Vollbeschäftigung: Es gibt Arbeitslosenquoten von zum Teil rund drei Prozent. Ich kenne keine Phase in der deutschen Geschichte, wo es uns wirtschaftlich so gut ging.

    Geht es weiter bergauf?

    Clement: Die Steuereinnahmen sprudeln, und es besteht die Möglichkeit, dass auch in anderen Regionen Deutschlands Vollbeschäftigung einkehrt. Unsere Agenda 2010 war eine gute Sache für Deutschland.

    SPD-Chef Martin Schulz hat einst die Agenda 2010 unterstützt, sie aber im Wahlkampf kritisiert.

    Clement: Seine Kritik hat mich erstaunt. Ich verstehe nicht, dass er das, was wir erreicht haben, so gering schätzt. Ich verstehe auch nicht, dass sich die SPD immer noch mit der Agenda herumquält, anstatt sich auf die Bildungspolitik zu konzentrieren. Denn wir bräuchten dringend eine Bildungs-Agenda. Die SPD hat in den letzten Jahren aber immer nur rückwärts statt vorwärts diskutiert. Das hat Schulz im Wahlkampf besonders intensiv getan, was nicht honoriert wurde.

    Sie sagten einmal, über Schulz könne man nur den Kopf schütteln.

    Clement: Ja, über das, was er tut. Er hat während des Wahlkampfes eine enorme Unsicherheit ausgestrahlt. Ich denke, dass er sich stabilisiert, wenn die SPD die Große Koalition mitträgt. Und davon gehe ich aus. Eine Jamaika-Koalition wäre aber besser gewesen. Das hätte neue Köpfe und neue Ideen gebracht. Ich bin der Meinung, dass wichtige Ämter des Staates auf zwei Wahlperioden beschränkt sein sollten. Sonst führt das zu Verkrustungen und Speichelleckertum. Wenn die Große Koalition jetzt nicht in Fragen der Bildungs- und Digitalpolitik umsteuert, könnten Union und SPD zusammen sogar unter 50 Prozent fallen. Dann haben sie bei der nächsten Wahl keine Mehrheit mehr.

    Ist Schulz der richtige Mann für die SPD-Spitze?

    Clement: Ich glaube, dass es da wie bei der Union noch einmal zu Veränderungen kommen muss.

    Was halten Sie von Sigmar Gabriel?

    Clement: Er ist zur Zeit das herausragende politische Talent der SPD.

    Sind Sie trotz Ihres Parteiaustritts im Herzen noch Sozialdemokrat?

    Clement: Angesichts der Politik, die die SPD vertritt, würde ich heute nicht mehr in die SPD eintreten.

    Würden Sie zur FDP gehen?

    Clement: Ich bin da unsicher. Aber so, wie sich die FDP heute präsentiert, stehe ich ihr nahe. Ich bin aber kein FDP-Mitglied. Ich halte von Parteiwechsler-Geschichten nichts. Heute bin ich Lobbyist der Sozialen Marktwirtschaft und warne vor zu viel Staatseinfluss auf die Wirtschaft.

    Wann gehen Sie in Rente?

    Clement: Ich mache weiter.

    Fragen Sie Sozialdemokraten noch nach ihrem Rat?

    Clement: Wenige. Ich werde überall eingeladen, nur nicht bei SPD-Veranstaltungen. Die befürchten sicher, dass es zu entsprechenden Wallungen kommt.

    Wolfgang Clement, 77, ist in Bochum geboren. Er hat Jura studiert. Von 1998 bis 2002 war er Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, um danach im Bund bis 2005 Superminister für Wirtschaft und Arbeit zu werden.

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