Herr Kater, Deutschland hat dieses Jahr seine Wachstumsaussichten angesichts der immer neu aufflackernden Corona-Krise und vieler Lieferengpässe nach unten schrauben müssen. Wie sehen Ihre Erwartungen für 2022 aus?
Ulrich Kater: In Deutschland hat die Konjunktur tatsächlich einen Dämpfer erlebt. Damit bildete die deutsche Wirtschaft aber international eher die Ausnahme. Die Weltwirtschaft insgesamt wuchs 2021 um fast 6 Prozent, das ist ein Prozentpunkt mehr, als man zu Beginn des Jahres erwartet hatte. Es gibt nur zwei prominente Ausnahmen, bei denen die Erwartungen nach unten korrigiert werden mussten – das ist Japan und das ist Deutschland. Insofern haben wir hierzulande eine etwas zu graue Brille auf. Weltweit ist die Wirtschaft intakt und hat sich nach den ersten Corona-Schocks erholt. Dies sollte auch nach der Omikron-Welle weitergehen. Nächstes Jahr erwarten wir weltweit ein Wachstum von 4 Prozent, in Deutschland von 3,7 Prozent. Und der Schwung reicht auch noch bis 2023. Insgesamt sind das drei Jahre sehr kräftiges Wachstum. Das ist ein gutes Fundament für die Wertpapiermärkte.
Könnte die neue Omikron-Welle dies nicht alles durchkreuzen?
Kater: Zwar müssten wir mit einem herben Einbruch der deutschen Wirtschaft rechnen, falls es zu einem flächendeckenden Lockdown wie zu Beginn der Pandemie käme. Zum einen erwarten wir jedoch eher abgestufte Einschränkungen und zum anderen haben wir beobachtet, dass es in der Corona-Zeit aufseiten der Unternehmen enorme Lerneffekte gab, wie auch unter Corona-Einschränkungen das Beste aus den Produktionskapazitäten herauszuholen ist. Zwar gab es in der Weltwirtschaft enorme Flaschenhalsprobleme, beispielsweise wegen der Schließung von Häfen in China oder wegen vorübergehend hoher Krankheitsausfälle. Man darf aber nicht ausblenden, dass in der Weltwirtschaft trotz dieser Bedingungen im schwierigen Jahr 2021 bereits wieder mehr produziert wurde als vor Corona.
Wie kann es da sein, dass plötzlich viele Produkte knapp waren?
Kater: Der Überraschungseffekt in den letzten 18 Monaten war die hohe Nachfrage der Konsumenten. Die Einkommen sind durch die staatlichen Stützungsprogramme stabil geblieben, in den USA bescherten die Zahlungen des Staates den Bürgern sogar mehr Einkommen als vor Corona. Da in der Corona-Zeit viele Dienstleistungen wie Reisen oder Veranstaltungen nicht zur Verfügung standen, ist das Geld überproportional in Güterkäufe geflossen. Das traf auf eine vorsichtige Produktionsplanung bei vielen Unternehmen. Und damit war vieles plötzlich knapp.
Lieferketten-Engpässe sind für unsere Unternehmen ein großes Problem. Stahl, Chips, Kabel, vieles ist knapp und teuer geworden. Begleitet uns dies auch 2022 noch?
Kater: Die Lieferengpässe begleiten uns auch 2022, aber zunehmend in abgemilderter Form. Das erwarten auch viele Unternehmen, die bereits im Jahr 2021 sehr erfinderisch waren bei der Umgehung der Lieferschwierigkeiten, sonst wären die Knappheiten noch drastischer ausgefallen. Wie schnell sich die Dinge normalisieren, ist von Branche zu Branche unterschiedlich. Bei den Speicherchips zum Beispiel braucht es Zeit, neue Produktionsstätten zu errichten, hier muss man sogar darauf achten, dass es nicht zu Überinvestitionen kommt, die dazu führen könnten, dass in zwei Jahren aufgrund von zu hohen Kapazitäten die Preise wieder stark fallen. Aber lange Lieferzeiten und mangelnde Verfügbarkeiten von Gütern werden auch noch 2022 ein Thema sein.
Welches Risiko, denken Sie, geht von dem schwankenden Immobilienriesen Evergrande in China aus?
Kater: Der Immobiliensektor macht ein Viertel der chinesischen Wirtschaft aus. Wenn es dort einen flächendeckenden Zusammenbruch gäbe wie bei der Finanzkrise in den USA 2008, dann würde das die Weltwirtschaft merklich beeinträchtigen, denn China würde in eine Rezession fallen. Die Regierung in China ist allerdings sehr bestrebt, dies nicht passieren zu lassen. Pleiten werden nur so weit zugelassen, soweit sie nicht die gesamte Volkswirtschaft gefährden, da unterscheidet sich die chinesische Politik gar nicht so sehr von der umstrittenen Bankenrettung zu den Zeiten der Finanzkrise im Westen. Bremseffekte sind aber bereits sichtbar: Das Wachstum in China wird nicht mehr 8 Prozent wie dieses Jahr, sondern eher 5 Prozent betragen.
Wird nachlassendes Wachstum in China zum Problem für die Weltwirtschaft?
Kater: Es gibt erste Anzeichen, dass die Abhängigkeiten von China in Zukunft wohl sinken. China war einmal die Werkbank der Welt, und noch immer werden viele Güter dort gefertigt. Für viele Firmen soll China aber nicht länger der einzige Produktionsstandort sein. Das hat auch politische Hintergründe. Lieferketten werden neu geknüpft. Länder wie Indonesien, Malaysia und Vietnam übernehmen damit zunehmend die Rolle, die einst China hatte. Neben der reinen Güterproduktion gewinnen weltweit auch digitale Produkte an Bedeutung und damit Länder wie Indien. Die Globalisierungsstruktur der vergangenen Jahrzehnte fängt an, sich zu bewegen: Es wird nicht mehr nur auf Effizienz, sondern auch auf Themen wie Nachhaltigkeit oder Krisenfestigkeit geachtet Die Kehrseite dieser von vielen Menschen begrüßten Entwicklung ist, dass dann die Güter nicht mehr so billig wie bislang angeboten werden können.
Jetzt ist China leider gerade für deutsche Autobauer ein wichtiger Absatzmarkt.
Kater: Auch das wird sich relativieren, denn die chinesische Wirtschaftsstrategie strebt einen höheren Anteil von Produkten aus heimischer Fertigung an. Die nächste Entwicklungsstufe der chinesischen Wirtschaft liegt in der Produktion höherwertiger Güter und Markenartikeln.
Wechseln wir das Spielfeld: In Deutschland betrug die Inflation im November satte 5,2 Prozent. Was steht uns da in Zukunft bevor?
Kater: Die Inflationsraten werden ab Januar 2022 zurückgehen, sie werden aber höher liegen, als es vor Corona der Fall war. Damals waren die Inflationsraten zwar beständig zu niedrig. Ein Prozent Inflation ist zu wenig Wasser unter dem Kiel der Geldpolitik. Sie benötigt etwas Inflation, damit ihre Instrumente wirken. Nächstes Jahr wird die Inflation aber wohl nur auf ein Niveau zwischen 2 und 3 Prozent zurückgehen, und das wiederum wäre zu viel an Inflation. Das bedeutet, dass die Geldpolitik einen oder zwei Gänge zurückschalten muss.
Das heißt: Ende der Anleihekäufe, vielleicht sogar steigende Zinsen?
Kater: Ja. Die Anleihekäufe sollten über das Jahr 2022 kontinuierlich zurückgeführt werden, was Kapitalmarktrenditen und Bauzinsen steigen lassen würde. Sparzinsen sollten dann ab 2023 oder spätestens 2024 wieder auf und über null steigen. Sollte die Inflation gar nicht zu stoppen sein und zum Beispiel bei über 3 Prozent verharren, muss die Zentralbank früher aktiv werden.
Wie legt man angesichts der steigenden Inflation sein Geld an?
Kater: Bei Anleiherendite deuten sich weitere Anstiege an. 10-jährige Bundesanleihen könnten nächstes Jahr eine positive Rendite haben. Bei Sparkonten dauert die Erholung sicher noch länger. Berücksichtigt man allerdings die Inflation, dann macht man mit diesen Anlageformen selbst bei diesen leichten Zinssteigerungen weiterhin keinen Gewinn. Die Zinsen abzüglich der Inflationsrate werden noch für viele Jahre negativ sein. Hier gibt es keine Trendwende. Die Alternative sind Investitionen in Aktien oder Unternehmensanleihen. Wir spüren, dass immer mehr Anleger bereit sind, den langfristigen Teil des Vermögens hier anzulegen.
Wo sehen Sie denn den Dax Ende 2022?
Kater: Unter den beschriebenen Bedingungen von weiterhin negativen Realzinsen bei guter Konjunktur nach der gegenwärtigen Corona-Welle sehen wir den Dax in einem Jahr bei 17.500 Punkten.
Ist der Aktienmarkt nicht langsam überbewertet?
Kater: Die Bewertungen an den Aktienmärkten stehen immer in Relation zum Zinsniveau. Sollten die Zinsen viel stärker steigen, als bereits jetzt erwartet, würde man die hohen Bewertungen der Firmen korrigieren und die Kurse an der Börse fallen. Anleger müssen immer im Hinterkopf haben, dass solche Bewegungen zu den Aktienmärkten dazugehören wie die Kurstafel im Börsensaal. Zu diesem Bewusstsein gehört aber auch, dass solche Kursrücksetzer langfristig kein Verkaufsgrund sind, sondern im Gegenteil in solchen Situationen ein weiterer kontinuierlicher Aufbau von Positionen die richtige Strategie darstellt. Über das langfristige Wirtschaftswachstum nach solchen Krisen wachsen die Unternehmen wieder in die alten Kursniveaus hinein und übertreffen diese dann nach einer Weile wieder.
In welchen Bereichen sehen Sie denn Chance für Aktienanleger?
Kater: Interessant sind Bereiche, die ein nachhaltiges Geschäftsmodell verfolgen. Diese Unternehmen müssen nicht heute schon unbedingt CO2-neutral produzieren, sie müssen jedoch über ein Management verfügen, das die Bedeutung der Nachhaltigkeit fest im Blick hat. Branchen, in denen Nachhaltigkeit zukünftig eine große Rolle spielen wird, sind insbesondere der Energiebereich, die Infrastruktur, Bau und die Pharma-Industrie.
Eine letzte Frage: Was erwarten Sie sich von der neuen Bundesregierung?
Kater: Eines der dringenden Probleme ist sicher, die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit auf den Weg zu bringen. Die Planungszeiträume allein für neue Energienetze sind viel zu lang. Die großen Stromtrassen von Nord nach Süd sollten ursprünglich 2023 fertig sein, heute ist noch nicht einmal ein erster Abschnitt erstellt. Wir brauchen hier mehr Tempo, weil wir ansonsten den Umbau unserer Volkswirtschaft gefährden.
Zur Person: Ulrich Kater ist Chefvolkswirt der Deka-Bank, die zur Sparkassen-Finanzgruppe gehört.
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